10. April – 15. Mai 2021
Start: 09. April 2021
THOMAS REHBEIN GALERIE : KOELN

Der bekannte Physiker, der sich mit der Journalistin in der Bar des Hotel Adlon in Berlin getroffen hatte, um ihr eine spannende wissenschaftliche Entdeckung näherzubringen, berichtete, sichtlich um Ruhe bemüht, er und seine Kollegen könnten beweisen, dass sich die Natur allein durch intensive Beobachtung in ihrem natürlichen Verhalten beeinflussen lasse und sich schließlich unnatürlich verhalte. Er sprach vom Quanten-Zeno-Effekt.

„– Was habe ich darunter zu verstehen?
– Wir können durch häufiges Beobachten einen radioaktiven Kern am Zerfall hindern.
– So wie man einen Selbstmörder, der am Rande eines Hochhauses posiert, durch Auf-ihn-Einsprechen an der Tat hindert? Man darf nicht zu viel und man darf nicht zu wenig reden?
– Das radioaktive Elementarteilchen, beobachtet, kommt nicht dazu, zu zerfallen.
– Und?
– Dasselbe passiert, wenn man einen radioaktiven Kern im Zerfall beschleunigt. Auch das geschieht durch Beobachten. […] Ist das nicht interessant?“1

Die junge Frau stellte sich intime Begegnungen mit anderen vor, übertrug in Gedanken das Gesagte auf solche Szenen und glaubte zu verstehen, wovon die Rede war. Doch was auf dem Feld des körperlichen Begehrens offensichtlich ist – dass man sich selbst durch die Beobachtung eines anderen und beim Beobachten des Beobachters möglicherweise nicht mehr natürlich verhält und vielleicht sogar ins Schleudern gerät –, gilt ebenso für die Begegnung mit Kunstwerken. Wenn auch hier das Wechselspiel nicht so offensichtlich sein mag, verändern wir uns in der Begegnung mit Werken der Kunst – jedenfalls dann, wenn wir ihnen etwas Wesenhaftes zuerkennen – und erleben nicht selten, dass da „keine Stelle (ist), die dich nicht sieht“2. Wie ein lebendiges Gegenüber fordert das Werk etwas von uns. Zunächst Aufmerksamkeit und Konzentration. Aufmerksamkeit ist das große Stimulans und steht häufig am Anfang eines fruchtbaren Austauschs. Aufmerksamkeit ist das Gegenteil von stumpfsinnigem, interesselosem Dämmern. Bringt man den Werken Peter Tollens die geforderte Aufmerksamkeit entgegen, fragt man sie, was sie wollen, was sie begehren, dann kann ein Dialog entstehen, in dessen Verlauf sich beide Seiten bereichern und verändern. Anhaltende Aufmerksamkeit ist also ein notwendiger, wechselseitiger, ja geradezu lebenserhaltender Prozess. Fehlt sie jedoch, können Bilder siechen oder gar sterben. Aufmerksamkeit aber vitalisiert, so wie die Beobachtung durch den Physiker und die ihm gewidmete Aufmerksamkeit bewirken, dass der radioaktive Kern nicht zerfällt. Wichtig ist, dass aus dem Blick auf Bilder ein Blickwechsel entsteht. Die Grenzen zwischen Kunstwerk und Leben sind also fließend, auch wenn wir natürlich wissen, dass wir es sind, die den Bildern Leben verleihen, um mit ihnen kommunizieren zu können. Es liegt also an uns und unserer Art der Zuwendung, welche Bedeutung einer Arbeit, die ihrerseits aus einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber einer anderen Sache entstanden ist, letztlich zukommt.

Arbeit, nicht als notwendiges Übel, sondern positiv gedeutet, ist Aufmerksamkeit und Gestaltungswille. Arbeit erwirkt Zustandsveränderung. Tollens hat sein Leben, seine Arbeit und seine Aufmerksamkeit den Farben und ihrer Materialität gewidmet. Die hier versammelten, überwiegend blauen Bilder evozieren viel von dem, was diese eigentümliche Farbe auszeichnet. Wie keine andere steht Blau in der Spanne von Schwarz und Weiß. „Die Energie (dieser) Farbe, die dank ihrer Vertiefungsgabe das Nahe auf eine unendliche Ferne hin durchsichtig macht, hat sie zur Farbe der Utopie werden lassen.“3 Blau steht für Sehnsucht, Aufschwung und Lauterkeit. Blau hält „einen Horizont offen, auch wenn es nicht mehr Nimbus ist über dem Parnaß. […] Erst wenn – mit Mallarmés Worten – das Gehirn in aller Hoffnungslosigkeit so ‚leer‘ geworden wäre, daß es seinen ‚finsteren Frieden‘ im ‚Trübsinn‘ gefunden hätte, wäre auch das Azur erstickt.“4

Farbe verleugnet bei Tollens ihre Materialität nicht, ganz im Gegenteil. Die Bilder auf Holz, Leinwand und Schiefer wirken derart haptisch, dass es schwerfällt, die Finger beim Betrachten ruhig zu halten. In die Oberfläche haben sich Spuren und Zeichen der Beziehung zwischen Maler und Farbe eingeschrieben. Diese Oberfläche wirkt undurchlässig und durchlässig, widerstandsfähig und empfindlich. Als Haut ist sie nicht nur Grenzfläche zu den unter ihr liegenden Farbschichten, sondern auch entscheidend für die Entstehung einer Beziehung zum Betrachter. Die Oberfläche ist sowohl schützende Barriere als auch kontrollierende Membrane. Sie weist Öffnungen auf, lebendige, kontrollierende Öffnungen, durch die das Farbwesen ein- und ausatmet. Tollens Bilder wirken nicht zuletzt deshalb lebendig, weil sie aus der
Tiefe vitalisiert werden. Farben durchdringen sich bei ihm körperlich, Farben sind Bindegewebe, Farben kommen aus dem Raum zwischen Haut und Knochen.

Das mit Ölfarbe auf Schiefer gemalte Bild Kobalt, Ocker, Ultramarin, Orange, Indanthron, Grün (2020) ist ganz in diesem Sinne oberflächlich und tiefgründig zugleich, ganz ineinander verflochtene Farbe. Es ist ein hoffnungsvolles Bild, das stark und selbstsicher wirkt. Ein Bild, mit dem ich gern kooperieren möchte, ein Bild, an dem ich meine Freude habe, mit dem ich gern befreundet wäre. Freundschaft und Liebe aber sind ja auch nichts anderes als „erhöhte Aufmerksamkeit für sich selbst und für jemand anderen, für sich selbst im Medium des anderen, für den anderen im Medium von sich selbst“5.

Überwiegend Blau, aber auch Grau, Rot, Weiß und Grün, das könnte auch eine Beschreibung unseres Planeten sein. Dass wir ihn heute so sehen, ist alles andere als selbstverständlich. „Wenn ein Außerirdischer sich um 630 Millionen Jahre v. Chr. der Erde genähert hätte, wäre ihm die Kugel nicht blau, sondern streng weißgrau erschienen, eher zum Schmutz als zur Farbe eines Arztkittels tendierend. Nur wenige Millionen Jahre später, also geologisch ‚bald darauf‘ oder ‚plötzlich‘, bildeten sich hellblaue Zonen, ein Versprechen in Richtung UNSERES BLAUEN PLANETEN. So ist noch viel Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung verborgen im Blau. […] Die Chance liegt zum Tiefblauen hin, so wie der Pazifik dem außerirdischen Auge erscheint, wenn er mehrheitlich wolkenlos ist. Dies bedeutet, daß über den Kontinenten die Wolken willkommene Nässe bringen.“6

Während Blau das „Zukunftshaltige, Noch-Nicht-Gewordene in der Wirklichkeit“7 bezeichnet, ist Rot weniger positiv besetzt. Mit Rot verbindet sich Zerstörung und Aggressivität. Die Fahne der Revolution ist rot. Dass es dazu kam, beruht jedoch eher auf einem historischen Zufall.8 Richtig wäre es, sie gegen eine blaue Flagge auszutauschen, und zwar in der „Farbe des Planeten, vom Asteroiden Ceres aus gesehen, ein Marineblau mit ultravioletten Schatten, gespeist mit einem filigranen Weiß, welches das Vorhandensein von Wolken repräsentiert: aus der Ferne ist solches Blau von besonderer Schönheit. Das Auge kann sich nicht satt sehen, weil im Gesichtsfeld kein Blau genau festgelegt ist. Eine milliardenfache Summe von Differenzen“9.

Peter Tollens könnte diese Flagge malen.

(Andreas Bee, 2021)

1 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt am Main 2003, S. 876. Auch das Eingangssetting lehnt sich hier an den „Später Sieg über die Natur“ überschriebenen Beitrag Kluges an.
2 Rainer Maria Rilke, Archaïscher Torso Apollos, in: ders., zit. n. Die schönsten Gedichte, Berlin 2011, S. 82
3 Angelika Overath, Das andere Blau, Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht, Stuttgart 1987, S. 197.
4 a.a.O., U4 (Buchrückseite).
5 Dietmar Dath, in: Martin Hatzius, Dietmar Dath. Alles fragen, nichts fürchten, Berlin 2011, S. 17 f.
6 Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt am Main 2006, S. 30
7 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Erster Band, Frankfurt am Main 1976, S. 144.
8 Siehe hierzu: Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt am Main 2006, S. 30, Anmerkung 3.
9 a.a.O., S. 30.

Bildnachweis: Blau, 2017, Ölfarbe auf Holz, 50 x 49 cm.


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