ULRIKE GROSSARTH – GIBT ES EIN GRAU GLÜHEND?
11. Februar – 18. April 2022
Badischer Kunstverein
Aus dem Tanz kommend konzentriert sich Ulrike Grossarth seit den 1980er Jahren auf die bildende Kunst, wobei die Künstlerin selbst betont, dass sie weniger an der Herstellung von Kunstwerken interessiert ist, als vielmehr Formen und Methoden entwickeln möchte, die ein öffnendes Wahrnehmen ermöglichen. So beschäftigt sich Grossarth in ihren früheren künstlerischen Arbeiten mit der Veranschaulichung ökonomischer Begriffe und fiktiver Tauschaktionen, die sie in den so genannten „public exercises“ als „Übungsreihen zur Überwindung fixierter Kulturmodule“ performativ behandelt.
Später galt Ulrike Grossarths Interesse der mittel- und osteuropäischen Geistesgeschichte, respektive der verloren gegangenen jüdischen Geschichte im polnischen Lublin. Es entstand eine über Jahre hinweg angelegte Sammlung aus Fotos, Texten und Postern, die neben Zeichnungen und Projektionen in Grossarths Ensembles einfließen. Die Künstlerin entwirft zudem Figuren, Symbole und Allegorien, die in verschiedenen sozialen Handlungen agieren. Beeinflusst durch die Formensprache der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert und Hannah Arendts Vorstellung vom Handeln als eine „in der Kultur noch zu entwickelnde Größe“ kommt Grossarth zu einer einzigartigen Methode der künstlerischen Forschung, in der sich Materialien verschiedener Kulturen, Geografien und Geistesgeschichten begegnen, um neue kulturelle Milieus zu schaffen. Grossarths künstlerische Praxis reflektiert die Formulierung eines zukünftigen Kunst- und Kulturbegriffs aus den Quellen jüdischer Denk- und Lehrtradition und ihr Interessensschwerpunkt liegt auf anthropologischen Themen. Dazu gehört auch das Studium des Talmuds, das sie in verschiedenen Lerngruppen praktiziert.
Die gemeinsam mit der Künstlerin intensiv vorbereitete Ausstellung im Kunstverein nimmt diese Arbeitsweise und Methode zur Übersetzung kulturgeschichtlicher Phänomene in den Blick, indem die Materialsammlungen in Vitrinen gezeigt werden und sich zugleich im Raum entfalten. Das Ensemble Bau I (1989–97), das 1997 auf der documenta x zu sehen war, ist paradigmatisch für Grossarths künstlerische Herangehensweise, indem sie als Handlung verschiedene Gegenstände auf einem Tisch so arrangiert, dass sie kollektiv zusammenstehen, bewusst unterschiedslos und mengenhaft arrangiert werden und die Vorstellung vom Solitär oder Objektstatus obsolet wird. Diese Studie zu „unbewegten Gegenstandskörpern“ beruft sich auf Grossarths umfangreiche Untersuchung zum Objektbegriff des 20. Jahrhunderts (Duchamp, Warenfetisch, Objektstatus). Der im Kunstverein präsentierte Bau II, rot/grün-grau (1999) ist eine Weiterführung von Bau I und verdeutlicht bildnerisch-plastisch den Versuch, das Spannungsfeld des Komplementären zu überwinden und stattdessen nach einem „vorsprachlichen“ Formenkanon zu suchen, in dem Farben zu zentralen Merkmalen der Gegenstände werden.
Neben ausgewählten Werkensembles aus verschiedenen Schaffensperioden, widmet sich eine Ausstellungsebene den so genannten Lubliner Projekten, die Ulrike Grossarth seit 2006 in Polen und der Ukraine veranstaltet. 2014 gründete sie außerdem die Schule von Lublin und 2015 mit SYMBOL gotowe / sklep einen Raum für temporäre Interventionen und Ausstellungen. In der Schule von Lublin überführte Grossarth ihre Recherchen zur jüdischen Geschichte in eine konkrete Lehrtätigkeit. Sie untersuchte mit Studierenden die vielfältigen historischen Schichten Lublins, das als Zentrum des Chassidismus in Polen, aber auch als Ausgangspunkt eines beispiellosen Vernichtungsfeldzugs des NS-Regimes eine wechselvolle Geschichte hat. Stoffe aus Lublin (2007/10) bezieht sich auf Grossarths intensive Auseinandersetzung mit dem Archiv des Fotografen Stefan Kiełsznia. Werbetafeln von Schneidereigeschäften in Lublin und Stoffe aus dem Textilmuseum in Łódź werden mit Figuren und Fragmenten aus bildnerischen Quellen unterschiedlicher Epochen des Abendlands kombiniert (von Diderot und d’Alembert, aus Kupferstichen des Alchemisten Michael Maier, aus der Iconologia des Cesare Ripa). Zur Schule von Lublin erscheint eine Publikation im Rahmen der Ausstellung.
Bildnachweis: ‚Esther and Ruth/ merchants unmasked‘, Berlin / Lublin 2017 / 19 (c) Ulrike Grossarth
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