8. November 2024 – 26. Januar 2025
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden


Mit Arbeiten von
Etel Adnan, Ouassila Arras, Yael Bartana, Nikola Bojić, Damir Gamulin, Mijo Gladović, Damir Prizmić, Cihad Caner, Ali M. Demirel, Simon Denny, Otto Dix, Cevdet Erek, Marco Fusinato, Mariam Ghani, Shilpa Gupta, Jina Khayyer, Käthe Kollwitz, Kateryna Lysovenko, Sabelo Mlangeni, Mohammad Salemy, Erinç Seymen u.a.

Die Ausstellung wird am Freitag, den 08. November 2024, um 19 Uhr eröffnet.

„Morgen. Weite. Verschwommenheit. Nebel hat alles in völliges Grau gehüllt.
Das währt fort. Zweifel braut sich über dem Geist zusammen. Abwesenheit ist schwerer zu ertragen als Tod.“

Etel Adnan, Sea and Fog (2012)

    Über die Ausstellung

    Was können wir von den Komplexitäten der Natur lernen, den Harmonien und Disharmonien, die den Kreislauf der Zeit prägen? Kann die Kraft, die von der Dualität und der komplexen Beziehung zwischen Meer und Nebel ausgeht, zu einem emotionalen Katalysator im Umgang mit der eigenen Machtlosigkeit angesichts der Kriege und Konflikte im Nahen Osten, Afrika, Asien, Europa und weltweit werden?

    Meer und Nebel sind in ihrem fortlaufenden Wechselspiel das wohl wertvollste Naturphänomen in einer Auseinandersetzung mit der Zeit. In einer Welt, in der Kriege und globale Spannungen nicht mehr nur an einen bestimmten Ort oder ein geografisches Gebiet gebunden sind, sondern überall und gleichzeitig
    stattfinden, kann dieses die Zeit überwindende Naturphänomen vielleicht als Leitfaden für die Wahrnehmung einer undurchsichtigen Vergangenheit und einer unbekannten Zukunft dienen. Die Ausstellung Sea and Fog folgt diesen Synergien und Antagonismen, um den Zustand gelebter und empfundener Ohnmacht zu überwinden, um Räume für Trost, Verständnis und Solidarität zu öffnen.

    Am 11. November 1918 um fünf Uhr morgens wurde auf einer Waldlichtung bei Compiègne in Frankreich der Waffenstillstand unterzeichnet, der den vier Jahre andauernden Ersten Weltkrieg beendete. 106 Jahre nach dem Ende dieses schrecklichen Krieges möchte die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden mit der Gruppenausstellung Sea and Fog, inspiriert vom gleichnamigen Buch der Künstlerin und Dichterin Etel Adnan (1925–2021), durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Weltkriege und deren Auswirkungen auf die Gegenwart geografische und kulturelle Verflechtungen offenlegen, die weit über künstlich gezogene Grenzen, Nationalstaaten und Geopolitik hinausgehen. Der Alltag neuer Kriege und Katastrophen im Mittleren und Nahen Osten, Afrika, Asien, Europa und weltweit macht eine Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg notwendiger denn je.

    Während des Ersten Weltkriegs als einem der schrecklichsten Kriege der Zeitgeschichte starben weltweit mehr als neun Millionen Soldatinnen und sechs Millionen Zivilistinnen. Unzählige Menschen wurden verletzt und allein an der Westfront zerstörten mehr als 1.5 Milliarden Granaten zahlreiche Städte und ganze Landstriche. Die Geschichte der zwei sogenannten Weltkriege wird allerdings häufig aus einer europäischen und US-amerikanischen Perspektive erzählt und unzählige individuelle Wahrnehmungen und Schicksale aus verschiedenen Kulturkreisen und Regionen bleiben weitgehend unbeachtet. Diese vielfältigen Geschichten verdeutlichen aber nicht nur die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen in den Kriegsjahren, sondern auch das gewaltige Ausmaß dieser Ereignisse

    Die ideologische und politische Desillusionierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die den Nährboden für Faschismus, Kommunismus und unzählige Konflikte legte, hallt in unserer Gegenwart weiterhin nach. Die Ausstellung Sea and Fog folgt diesem Nachhall und sucht nach Antworten, Schutz und Trost in der Sprache Etel Adnans und in den Werken der gezeigten Künstler*innen. Adnans Buch dient dabei als emotionaler Kompass, der an die Momente, Kriege und Ereignisse erinnert, in denen der Mensch das Menschsein abgelegt und die Zugehörigkeit zur Natur eingebüßt hat. Das Buch entfaltet dadurch ein Ausstellungsvokabular, das über Verwundbarkeit, Verlust, Leid, Trauer und Hoffnung spricht, um eben jene Dinge, die häufig unausgesprochen bleiben, sichtbar zu machen.

      Wie kein anderer Krieg zuvor beschleunigte der Erste Weltkrieg die technologische Entwicklung. Auch die Fotografie war Teil dieses Prozesses. Zwischen 1914 und 1918 wurde eine noch nie dagewesene Menge visueller Materialien produziert und in Umlauf gebracht. Das Medium der Fotografie brachte die
      Brutalität des Ersten Weltkriegs in Form von Bildern zu den Menschen und dokumentierte den Horror an den verschiedenen Fronten. Mit seiner Werkreihe DESASTRES (2024), die von der gleichnamigen Performance inspiriert ist, knüpft Marco Fusinato an diesen bildlichen Schrecken an. Er zeigt darin eindrücklich, wie die Zirkulation von Bildern des Zerfalls, der Zerstörung und des Terrors schnell zu einem Teil des alltäglichen Lebens werden kann und dazu beiträgt, die Grausamkeit des Krieges zu normalisieren.

      Auch Sabelo Mlangeni arbeitet in seiner Werkserie NGIYOBONA PHAMBILI (2023) (“Danke im Voraus“ in den Sprachen Zulu und Xhosa) mit dem Medium der Fotografie. Im Gegensatz zu Fusinatos Archiv widersprüchlich anmutender Bilder untersucht Mlangeni über seine Werke die vergessenen Geschichten der südafrikanischen Soldat*innen, die während des Ersten Weltkriegs an der Küste der Normandie für die Kolonialmacht Großbritannien kämpften. Mlangeni öffnet so Räume der Trauer und verleiht den verlorenen Stimmen aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs Gehör.

      Cevdet Erek setzt sich in seinen Werken Centenary Ruler (2014) und Region Without Borders (2018) mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs und der daraus resultierenden Bildung neuer Staaten nach dem Ersten Weltkrieg auseinander. Mit seinen Arbeiten hinterfragt Erek die Vermessung der Welt durch
      territoriale Grenzen. Auch Simon Denny beschäftigt sich in seiner Werkserie Metaverse Landscapes (2023) mit Territorien, allerdings in digitalen Welten. Wie werden Grenzen gezogen und wie werden diese künstlich definierten Territorien repräsentiert? Denny orientiert sich dabei an klassischen Darstellungen des Metaverse und verbindet diese mit historischen Idiomen der kolonialen Landschaftsmalerei und der Abstraktion der Moderne.

      Ähnlich wie Sabelo Mlangenis thematisiert Shilpa Gupta die Geschichten einzelner. In ihrer Arbeit Altered Inheritances – 100 (Last Name) Stories (2012-2014), die in Form eines Archivs angelegt ist, befasst sich die Künstlerin mit den Erzählungen von Menschen, die ihren Familiennamen aufgrund von Krieg, politischer Verfolgung, der Bildung neuer Nationalstaaten oder aus persönlichen Gründen ändern mussten. Guptas Arbeit erlaubt ein „cross-reading“ unterschiedlicher historischer Ereignisse und ihre Auswirkungen auf die Schicksale einzelner.

      Geschichte folgt häufig dem Bemühen, mit den Toten und ihren Opfern zu leben, dieses Erbe zu materialisieren und gleichzeitig die damit verbundene unangenehme Vergangenheit zu vergessen. Cihad Caner nutzt die Methodik des Archivs, um diese Form des Erinnerns zu hinterfragen. Mit seinem Werk mezarمزار place to visit plaats om te bezoeken (2022) setzt er sich mit dem kollektiven Gedächtnis, den Symbolen des Erinnerns und der Abwesenheit beziehungsweise dem Verlust von Körpern auseinander.

      Wie lassen sich Verlust und Schmerz aber fassen? Gibt es für diese Gefühle passende Ventile oder Behälter? In den Gedichten von Etel Adnan sind der Verlust und der daraus resultierende Schmerz zentrales und wiederkehrendes Thema. Auch Mariam Ghani und Jina Khayyer befassen sich in ihren jeweiligen Werken mit diesen Fragen. In ihrer Videoarbeit There’s a Hole in the World Where You Used to Be (2024) beleuchtet Ghani die Art und Weise, wie sich Trauer sowohl persönlich und politisch als auch individuell und kollektiv anfühlen kann. In ihrem Film wird Abwesenheit als Wunde im Herzen und als Leerstelle in der Welt empfunden. Jina Khayyer nähert sich diesen Gefühlen in ihrem Werk Tear Catcher (2023) hingegen über figurative Zeichnungen und Gedichte.

      In der Geschichte und im kollektiven Gedächtnis verankern sich Kriege primär über Orte und Jahresdaten. Für Sea and Fog hat die Künstlerin Ouassila Arras eine Mauer in die Räume der Kunsthalle gebaut. Das Werk mit dem Titel Déplacement (fortlaufend) beleuchtet die Geschichte von Migration und menschgemachten Grenzen sowie die emotionalen Spuren, die das Verlassen eines Ortes und das Ankommen an einem anderen Ort hinterlassen. Das ortsspezifische räumliche Denken und das Errichten einer Mauer, die mehrfach versetzt wird, stehen hier als Metapher für Kriege, Konflikte und die daraus resultierenden Migrationsgeschichten. In Zeiten aktueller Katastrophen erinnert Arras’ Mauer an all die unzähligen Grenzen, die Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror überwinden müssen, um in Sicherheit leben zu können.

      Mit Sea and Fog beleuchtet die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden auch einen Teil ihrer eigenen institutionellen Geschichte und fragt, was vor 110 Jahren, 1914, fünf Jahre nach ihrer Gründung und zu Beginn des Ersten Weltkriegs, hier in Baden-Baden und Deutschland geschehen ist. Eine Auswahl an Werken von Käthe Kollwitz und Otto Dix setzt sich mit den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die in Deutschland und Europa lebende Bevölkerung der 1910er- und 1920er-Jahre auseinander. Die Werke von Dix und Kollwitz hallen auch heute noch nach.

      Auch Yael Bartanas Film Entartete Kunst Lebt (2010) nimmt auf die Kriegsbeobachtungen von Otto Dix Bezug und führt den Fluch der Wiederholung von Gewalt auf brutal spielerische Art und Weise vor Augen, indem sie Dix’ vom Krieg gezeichnete „Degenerierte“ ins 21. Jahrhundert holt und diese „bedauernswerten“ Veteranen in eine Allegorie nicht endender Kriege verwandelt.

      Die Geschichte zeigt, dass Menschen Katastrophen, Unglücke und Tragödien oft Göttern oder übernatürlichen Kräften zuschreiben. In seinen Arbeiten der Serie Gods and Disasters (2022-2023) verbindet Erinç Seymen von ihm händisch übertragene historische Drucke der Arbeiterklasse von Pieter van der Aa mit fiktiven Wesen, die in der Bildkomposition als herrschende Klasse fungieren. Die Arbeit befasst sich mit dem Prinzip der Klassenkriege und hinterfragt, wer für die gegenwärtigen Katastrophen und Konflikte tatsächlich Verantwortung trägt. Zeug*innenschaft und Verantwortung sind hier von zentraler Bedeutung.

      Krieg bringt Tod, zerstört die Lebensgrundlagen für Mensch und Tier und verwüstet die Natur. Die emotionale Zerstörung, die daraus entsteht, ist zumeist unzureichend bis gar nicht dokumentiert. Wie lassen sich Schmerz, Trauer, Leid und Verlust festhalten? Ähnlich wie bei Erinç Seymen spielen Verantwortung und Zeug*innenschaft auch im Werk von Kateryna Lysovenko eine wichtige Rolle. Sie thematisiert die Beziehung zwischen Volk, Politik und der herrschenden Klasse und stellt den Menschen oft als tierisches oder mythologisches Wesen dar, das sein Recht auf Selbstbestimmung abgeben muss.

      Ali M. Demirel beschäftigt sich hingegen mit der komplexen Beziehung von Mensch, Kapitalismus und Natur. Vor mehr als 12.000 Jahren lebten im Latmos-Gebirge im Südwesten der heutigen Türkei Menschen, die ihre Gefühle und Emotionen in Steine und Höhlen geritzt haben. Diese Menschen führten keine Kriege und lebten im Einklang mit der Gebirgsregion. Heute ist der Ort akut von der Minenindustrie bedroht. Mit seiner Arbeit Gods of Latmos (2023 – ongoing) beleuchtet Demirel die neuen Konflikte zwischen der von menschlicher Gier getriebenen Industrie und unserem Planeten.

      Die beiden Weltkriege haben die Weltordnung des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich geprägt. Heutige Konflikte, auch in Europa, basieren weiterhin auf Ideologien und Narrativen, die vor über 100 Jahren entstanden sind. Die kollektive Arbeit The Fall (2024) von Nikola Bojić, Damir Gamulin, Mijo Gladović und Damir Prizmić untersucht diese Ordnungen in einer Klanginstallation, die Bezug nimmt auf einen Raketenabsturz in Kroatien, 14 Tage nach der russischen Invasion in der Ukraine, am 10. März 2022. The Fall spiegelt Zeithorizonte und Zusammenhänge zwischen historischen und aktuellen Konflikten.

      Ähnlich wie die Arbeit von Bojić, Gamulin, Gladović und Prizmić erforscht Mohammad Salemy mit seinem Werk Verflechtungen zwischen historischen Narrativen und aktuellen Krisen. Er greift die Geschichte des Turmbaus zu Babel und das berühmte Kunstwerk von Pieter Bruegel d.Ä., um die Hybris der Menschheit zu thematisieren. Salemy verbindet Fragen nach gefühlter Sicherheit in einer Überwachungsgesellschaft mit Konflikten im Libanon und dem Werk Bruegels. Durch dieses Zusammenspiel und den Einsatz künstlicher Intelligenz generiert Salemy spekulative Erzählungen, die individuell interpretiert werden können.

      Die Ausstellung Sea and Fog verbindet Künstler*innen aus unterschiedlichen kulturellen und geografischen Kontexten über die Sprache Etel Adnans. Mit der Ausstellung möchte die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden Räume der Reflexion öffnen.

      Sea and Fog ist die Große Sonderausstellung der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden. Sie wird vom 8. November 2024 bis zum 26. Januar 2025 in der Kunsthalle zu sehen sein.

      Sie wurde kuratiert von Çağla Ilk, Misal Adnan Yıldız und Sandeep Sodhi.

      Bildnachweis: Etel Adnan: Ohne Titel, 2012 © and courtesy of the artist’s estate & Sfeir-Semler
      Gallery Beirut Hamburg


      Kunsthalle Baden-Baden
      Lichtentaler Allee 8a
      Baden-Baden 76530

      (Visited 5 times, 5 visits today)