30. August – 12. Oktober 2024
Thomas Rehbein Galerie


Die Künstlerin Mariele Neudecker berichtet in der Ausstellung „Nothing Ever Stays the Same“ von ihren künstlerischen und tatsächlichen Forschungen zur und in der Natur, und heuert uns auf eine Entdeckungsreise an. Sie stellt uns vor Fragen, was Natur und Landschaft ist, was beides sein kann und was sie nicht sind. Was künstlicher, künstlerischer und menschlicher Eingriff sein kann, und wie alles zusammenwirken kann. Im Rahmen der Ausstellung werden gattungsübergreifende Fragen der Realitätsformung, Orientierungssuche und Richtungsfindung aufgeworfen. Die Ausstellung ist eine Kombination aus Gemälden und Skulpturen, alleinstehend oder in einem genreübergreifenden und -hinterfragenden Sinne, inhaltlich und formal. Globale und universelle Gesetzmäßigkeiten sind Teil der Untersuchungen.

Mariele Neudecker führt uns in ihren Werken und Ausstellungen immersiv in Forschungsstationen, meist im ewigen Eis, und bildet uns dabei unsere Umwelt, unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und vielleicht auch unsere Zukunft ab. Dabei geht es auch immer um die Natur des Menschen. Ist der Mensch sich seiner Vergänglichkeit und der seiner Umwelt bewusst, so versucht er umso mehr sich selbst zu verstehen, als auch die Welt, auf der er lebt. Das untergehende Schiff der Menschheit will
betrachtet werden, der Mensch will erobern und besitzen. Will besitzen, was er nicht besitzen kann. Setzt imaginäre Grenzen, bestimmt Länder und rammt seine Fahnen in die Erde. Diese Thematik zeigen einige neue Gemälde in der Ausstellung.
»Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?«1
Die unser Leben bestimmende Vergänglichkeit bekommt vermeintlich weniger Macht, wenn man sie sich zu eigen macht, und wenn man sich selbst durch Hab und Gut unvergesslich macht, gefühlte Kontrolle über das Unausweichliche erlangt. Indem man Zeiten und Gezeiten durchschreitet, ein Erbe hinterlässt. Bestenfalls ein öffentliches Erbe, eines, das in die Geschichtsbücher für die Nachwelt eingeht, damit der Nachhall eines kleinen Lebens möglichst lange ein Echo erfährt. Erforschen und Entdecken sind wohl unter anderem deshalb menschliche Instinkte. Erobern und Besitzen wiederum ein Beweis dafür, dass ‚wir‘ hier waren, ein Fußabdruck unseres Schattens.

Fortitudine Vincimus – by endurance we conquer – so lautete der Leitspruch der Familie Shackleton, aus der der Polarforscher Ernest Shackleton stammte. Jener nahm an vier Antarktisexpeditionen teil und versuchte die Durchquerung des antarktischen Kontinents von Küste zu Küste über den geografischen Südpol hinweg zu meistern. Mit seinem Schiff, das er Endurance taufte, blieb er jedoch im Jahre 1925 im Packeis der Wedell-See stecken und kenterte.2
In der Ausstellung „Nothing Ever Stays the Same“ repräsentiert Mariele Neudecker dieses Schiff durch ein Modell, das sie mit einhundertvier Farbschichten, Schicht um Schicht bedeckte. Die Farbe wird Stück für Stück zum skultpurbildenden Moment, und zum sinngebenden Kriterium. Die Farbschichten erzählen die Geschichte vom ewigen Eis, von unserem Planeten, der durch die Schichtungen der Elemente funktioniert, und auf dem Zeit durch diese Schichten definiert werden kann. Der künstlerische Prozess, der über eine geduldige Prozedur des Farbauftrages bestimmt wird, wird sinnbildlich für die Ausdauer, die ForscherInnen und ihre etwaige Besatzung auf Expeditionen aufbringen müssen.
Die Farbe, die eigentlich bestimmend ist für Gemälde, wird hier zum raumerweiternden und zusammenhangsstiftenden Element für die Skulptur. Welche Natur liegt also hinter einer Skulptur? Mariele Neudecker verwischt Grenzen nicht nur im direkten Sinne, sondern auch im indirekten Sinne, indem sie die Gattungen Skulptur und Malerei kreuzt und vereinigt.

„People get addicted to the open space or frightened away and never come back. I long to go back.” – Mariele Neudecker. Sie ist Künstlerin und Forscherin zugleich und hat bereits Expeditionen in die Arktis absolviert. Doch ihr Ansatz bei Expeditionen ist ein anderer als jener der meist männlichen Entdecker in der Menschheitsgeschichte. Sie ist fasziniert vom ewigen Eis und seinem ewigen Weiß. Dem unendlichen Blick, der 360 Grad-Sicht. Sie will nicht erobern, sondern sehen, wirklich sehen – und wahrnehmen, welche Natur hinter einer Landschaft steckt. Welche Natur hinter dem Reizentzug von Farben und Objekten liegt, ohne den Anhaltspunkt eines Horizonts – und darüber hinaus, welche Antworten in der weißen Stille liegen, in einer klirrendkalten klaren Luft, die als eine der einzigen auf diesem Planeten noch nicht durch mobiles Netzwerk, Kommunikation und Signal durchströmt wird, unvoreingenommen ist, und rein. So ist Reinheit doch auch eine Seltenheit geworden in einer Welt, die sonst so eingenommen ist von ihren BewohnerInnen.

Eines der Schlüsselwerke im Œuvre Mariele Neudecker sind die Tanks, die Landschaften in einem mit Wasser befüllten Glasschaukasten nachbilden (hier: Cook & Peary). Sie bieten einen Blick auf verschiedene signifikante oder historische Landschaften, die fast unberührt erscheinen. Nur eine Spur von menschlichen Reminiszenzen und Beeinflussungen ist in diesen Landschaften erkennbar. Nahezu apokalyptisch anmutend, haben diese Landschaftsnachbildungen auch etwas Sinnliches und Mystisches. Beim Betrachten wirkt es, als begebe man sich durch den Blick in einen Schwebezustand, in einen zeitlosen Raum der Nichtdeutbarkeit. Spürbar wird, dass dieser Ort etwas bedeutet, oder bedeutet hat, jedoch nicht was. Es wird keine Zeitlichkeit lesbar, das Raum- und Zeitverhältnis verschwimmt. Verschiebung und Verzerrung wird spürbar, von dem Ort, an dem wir selbst uns physisch befinden, hinein in den, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern eine Imitation von dem ist, was es gibt – ein Ort also, den es zu geben scheint.

Eine ähnliche Wirkweise haben die Landschaftsmalereien auf verschobenen Holzpaneelen. Auch sie sind ausschnitthafte Aneignungen von bereits bestehenden und in der (Kunst-)Geschichte etablierten Gemälden, doch wurden in ihnen die Menschendarstellungen ausgelassen. Allein die romantische Abbildung der Landschaft wird von Neudecker fokussiert. Die Illusion der unberührten Natur in der Epoche der Romantik wird gebrochen durch ein subtil-bedrohliches Spiel mit der Nichtdeutbarkeit von Zeit und Ort. In beiden Werkreihen macht sich Neudecker Landschaften und Gemälde als Un-Orte zu eigen, um einen Ort nachzubilden und zu repräsentieren, jedoch gleichzeitig die Orientierung zu nehmen.

Zwei auf dem Boden platzierte Objekte, in der Größe von kleinen Felsen, hat Mariele Neudecker in die gleiche Form gebracht, jedoch mit Öl auf unterschiedliche Weise bemalt. So bekommen die gleichförmigen Skulpturen die Qualität von Gemälden, werden zu einem Stein und zu einem Busch. Das Gemälde wird um eine weitere Dimension ergänzt, die Skulptur durch Farbe ins Malerische erweitert. Es kommt die Frage auf, was Natur ist, was echt ist und was menschengemacht ist; was künstlich, künstlerisch oder illusorisch ist; und auch was das Genre Malerei und Skulptur ausmacht. Mariele Neudecker zeigt auf, dass auch die Illusion die Berechtigung hat, als echt anerkannt zu werden, sind die beiden großen Objekte im Ausstellungsraum doch nicht zu verneinen. Doch, was sind sie: Realität oder Illusion, Nachbildung oder Fantasie? Wenn Grenzen verschwimmen, so verschwimmen auch Definitionen.

Und letztendlich ist doch alles eine Frage der Perspektive, eine Frage des Blickwinkels, und jede Repräsentation letztendlich subjektiv, schlussendlich verfälscht. Dies beweist das wiederholt auftauchende Motiv von Karten in Neudeckers Werk, die sie sich aneignet und mit eigenen Sujets und Symbolen bemalt, verformt, entfremdet, schlussendlich entlarvt. Sie erinnert uns daran zurück, dass Karten niemals die Realität der Welt, von Ländern und Territorien so weitergeben und wiedergeben können, wie sie tatsächlich sind. Sie sind nie ein Spiegel, sondern eine verzerrte Darstellung.
Neudecker erinnert uns, dass unsere Welt dreidimensional ist, und eine Karte der Versuch ist diese Dreidimensionalität in zwei Dimensionen darzustellen, auf Papier oder Karton, bestenfalls zum Falten für die Schublade oder zum Aufhängen an der Wand. Wir stoßen auf uns selbst und auf unsere Frage nach Orientierung. Unsere Frage danach, wie wir etwas lesen wollen, Zeichen und Symbole, Legenden lesen wollen, um zu wissen, in welche Richtung wir gehen müssen oder wo wir uns selbst lokalisieren können.

Und auch die Zeit ist ein Ort. Ein Jetzt hier, ein Damals dort und ein Bald da. Jedes Ereignis in der Vergangenheit und in der Gegenwart schreibt eine neue Geschichte für die Zukunft. Alles, was geschieht, ist ein Ereignis einer Kette von Ereignissen, jedes Zukunftsszenario ist das erdachte Ergebnis von etwas, das bereits passiert ist. Alles, was da war wird wieder sein, bis vielleicht nichts mehr ist.

»Eine Generation geht, eine andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit. Die Sonne, die aufging und wieder unterging, atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht. Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind. Alle Flüsse fließen ins Meer, das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, kehren sie zurück, um wieder zu entspringen. Alle Dinge sind rastlos tätig, kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll. Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.«3

Generation um Generation der Menschheit kommt und geht. Die Erde ist geblieben. Mariele Neudecker beweist uns, dass alles miteinander verbunden ist, ein Kreislauf ist in dem Grenzen verschwimmen, subtil oder direkt. Ein Kreislauf, in dem alles geht und wiederkehrt. Alles ist verbunden, und alles, was lebt und existiert, ist den Naturgesetzen unterworfen. Wir sind den Gezeiten unterworfen, dem Wetter, der Vergänglichkeit. Auch wenn wir versuchen, erhaben über diese Gesetzmäßigkeiten zu sein, sind wir doch nur temporäre BewohnerInnen.
Nichts bleibt, wie es ist – und doch kommt alles zurück.

1 Aus der Bibel, Koh. 1,2-1,3.
2 Vgl. National Geographic, Link: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/ernest-shackleton, Stand: 9. Juli 2024
3 Aus der Bibel, Vers Koh. 1,4 – 1,9

Bildnachweis: Mariele Neudecker: Nothing Ever Stays the Same, 2024, Giclée-Druck auf Papier/Giclée print on paper (Fotografie auf Skulptur basierend/Photography based on scultpture), 39 x 38 cm, Foto: Markus Tretter


Thomas Rehbein Galerie
Aachener Straße 5
50674 Köln
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