16. September 2023 – 7. Januar 2024
Kunstmuseum Wolfsburg


Kuratorin: Uta Ruhkamp
Kuratorische Assistenz: Veronika Mehlhart, Dino Steinhof

Das Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert vom 16. September 2023 bis 7. Januar 2024 mit Kapwani Kiwanga. Die Länge des Horizonts die erste institutionelle und umfassende Mid-Career-Retrospektive der Künstlerin weltweit. Recherchebasiert, thematisch hochaktuell und zukunftsorientiert – so lässt sich das eindrucksvolle Werk von Kapwani Kiwanga (*1978) beschreiben. Die kanadisch-französische Künstlerin wurde jüngst mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet und wird 2024 den kanadischen Pavillon im Rahmen der 60. Biennale di Venezia bespielen. Die Ausstellung versammelt Werke aller Medien von Kiwangas Anfängen bis heute, so etwa die vielbeachtete Installation Terrarium (2022), ihren sechzehn Meter langen Farblichttunnel pink-blue (2017) oder ihre skulpturale Serie Glow (2019 fortlaufend). Die raumgreifenden Werke Kapwani Kiwangas verbinden sich in der Ausstellung zu einer einmaligen ästhetischen, erkenntnisreichen und auch körperlichen Erfahrung.

„Wir blicken voller Vorfreude auf die Präsentation der ersten großen Überblicksausstellung von Kapwani Kiwanga, einer außergewöhnlichen Position in der zeitgenössischen Kunst. Ihre Werke werden sich bei uns im Kunstmuseum Wolfsburg in unserer großen Ausstellungshalle zu einem faszinierenden wie tiefgründigen Parcours verdichten. Er wird die Aufmerksamkeit des Publikums gezielt auf eine Auseinandersetzung mit der Geschichte lenken, die mit zahlreichen gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart zusammenhängen. Gleichzeitig ist man berührt von der ästhetischen Präsenz von Kapwani Kiwangas Werken“, so Andreas Beitin, Direktor des Kunstmuseum Wolfsburg.

Uta Ruhkamp, die Kuratorin der Ausstellung, erläutert: „Kapwani Kiwangas Arbeiten sind äußerst vielschichtig. Ihre Werke sind künstlerische Übersetzungen fundiert recherchierter Sachverhalte, Zustände und Mechanismen unserer Gesellschaft und der Welt, in der wir leben. Ihre Installationen, Bilder, Papierarbeiten, Fotografien und Videoarbeiten bestechen durch ihre Ästhetik, formale Klarheit und Reduktion. Tatsächlich gründet ihre sensible Material- und Farbauswahl stets in tieferen Bedeutungsebenen, die ihre Arbeiten historisch und gesellschaftspolitisch aufladen und den visuellen Genuss inhaltlich aufbrechen. Kapwani Kiwanga vermisst und erweitert auf poetische Art und Weise unseren gesellschaftlichen Horizont. Besonders freue ich mich, dass sie für ihre Ausstellung bei uns eine neue Arbeit mit Schattiernetzen entwickelt, einem ihrer „Signature“- Materialien.“

Einblick in Kapwani Kiwangas künstlerisches Vorgehen

Als studierte Anthropologin und vergleichende Religionswissenschaftlerin verfügt Kapwani Kiwanga über den akademischen Hintergrund für ihre gesellschaftsanalytische Praxis. In ihren Werken arbeitet sie mit sogenannten Exit-Strategien: „I’m not trying to restate what one knows. I’m also trying to see what ways to get past what we know. To do that requires very simple things like just looking at it differently, or just even looking at it for the first time. […] These ‘exit strategies’ are very personal but they can be collectively experienced as well”, resümiert Kapwani Kiwanga.

Die Künstlerin sucht nach einem Vokabular, um bestehende Strukturen und Machtverhältnisse aus neuen Blickwinkeln zu betrachten, um diese in Zukunft anders zu denken. Die visuell eindrucksvollen Arbeiten sprechen die Betrachter*innen zunächst sehr sinnlich an. Auf den zweiten Blick offenbaren sich die historisch-politische Dimensionen ihrer Arbeiten, die zum Teil überraschen und verstören. Glas, Zweiwegespiegel, Schattiernetze, Stein, Sand, Sisal, Pflanzen sowie auch Licht und Farbe – all das sind für Kiwanga keine wertneutralen, sondern inhaltlich bedeutsame Materialien. Ihre Wahl derselben ist nie rein ästhetisch begründet. Vielmehr übersetzt sie mittels der verwendeten Materialien soziale, ökologische, geologische, geschichtliche und diasporische Themen in starke künstlerische Statements. Sie inszeniert Materialgeschichten, in denen das Material Botschafter, Metapher, Erfahrungsträger und sozialpolitisches Instrument zugleich ist. So rüttelt sie an den Grundmauern unserer kulturellen Sozialisierung. Sie verfeinert unser Gespür für „versteckte“ gesellschaftliche Mechanismen, strukturelle Ungerechtigkeiten und globale wie alltägliche Machtasymmetrien.

Einblick in die Ausstellung

Kapwani Kiwanga. Die Länge des Horizonts beginnt für die Besucherinnen mit einer überraschenden Raum- und Farberfahrung: Der Gang durch den Farblichtkorridor pink-blue markiert den Übergang vom Eingangsbereich des Museums ins Herz der Präsentation. Die tunnelartige Installation zwingt die Besucherinnen nicht nur in eine strenge Architektur, sondern macht auch immersiv erfahrbar, wie Licht und Farben im alltäglichen urbanen Kontext und Disziplinararchitekturen zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden. Die Arbeit rekurriert auf farbpsychologische Untersuchungen. Demnach soll beispielweise das sogenannte Baker-Miller-Pink eine aggressionsmildernde Wirkung auf Häftlinge haben. In pink-blue kombiniert Kapwani Kiwanga diesen Pinkton mit dem ebenfalls verhaltensregulierend eingesetzten, fluoreszierenden Blaulicht, das in öffentlichen Räumen den intravenösen Drogenkonsum unterbinden soll, da die Venen in diesem Licht nur schwer lokalisierbar sind. Kapwani Kiwanga schärft das körperliche und geistige Bewusstsein für Disziplinarstrukturen des Alltags.

In der rund 1.800 m2 großen Ausstellungshalle setzen sich die zentralen Arbeiten der Künstlerin zu einem pointierten Rundgang durch ihr Werk zusammen. Es wird deutlich, wie Kapwani Kiwanga die Wirkungsmacht von Farbe, Licht und Material einsetzt, um globale Geschichte(n) aus neuen Perspektiven zu erzählen.

Ist es bei der farbgewaltigen Rauminstallation The Marias (2020) zunächst das leuchtende Gelb der Wände und der Sockel, das die Betrachter*innen in ihren Bann zieht, thematisiert Kapwani Kiwanga mit den zarten Papierversionen des Pfauenstrauches die toxische Eigenschaft der Zierpflanze. Wie die Naturforscherin Maria Sibylla Merian (1647–1717) in ihrer berühmten Sammlung Metamorphosis insectorum Surinamensium beschreibt, wurde die Pfauenblume von Frauen in Surinam, die im Zustand der Sklaverei lebten, zu Abtreibungszwecken verwendet.

Mit einem ähnlichen visuellen Verführungseffekt arbeitet sie bei ihrer Installation Terrarium (2022), die sie für die Hauptausstellung The Milk of Dreams der 59. Biennale di Venezia entwickelte und die
sich aus vier semitransparenten Stoffbahnen (Sunset Horizon) und drei an Sanduhren erinnernde Skulpturen (Hour Glass) zusammensetzt. Terrarium thematisiert verschiedene Verwendungszwecke von natürlichen Ressourcen, in diesem Fall von Sand zur Herstellung von Glas oder zur Gewinnung von Schieferöl oder -gas durch Fracking. Die Hour Glasses stellen ihr eigenes Material aus, rufen die lange Ikonografie des Stundenglases als Vanitassymbol für das menschliche Leben hervor und übertragen diesen Endlichkeitsgedanken auf den Zustand unseres Planeten, auf den Umgang seiner Bewohner*innen mit Rohstoffen und Natur, mithin auf das Kapitalozän, einer zugespitzten Lesart des Anthropozäns.

Eigens für ihre Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg entwickelt Kapwani Kiwanga eine acht Meter breite Wandarbeit aus Schattiernetzen. Die farblich variierenden Schattiernetze, mit denen Kapwani Kiwanga ihre sogenannten Shade-Cloth-Arbeiten als Wandobjekte, raumgreifende Installationen und skulpturale Paravents konzipiert, werden eigentlich in der industriellen Landwirtschaft eingesetzt, um Pflanzen besser oder außerhalb ihres ursprünglichen Lebensraums gedeihen zu lassen. Im übertragenen Sinn können die Netze mit ihrer Verschattungseigenschaft für europäische Kolonialprojekte stehen, bei denen die Ökosysteme in den Kolonien so umgestaltet wurden, dass sie den europäischen besser entsprachen oder landschaftlicher Massenanbau mit hoher Ertragssteigerung möglich wurde.

Zur Ausstellung entsteht eine umfangreiche Publikation, herausgegeben von Uta Ruhkamp, (dt. / engl.) mit Installationsansichten der Ausstellung, Archivmaterialien, einem Gespräch zwischen Cecilia Alemani und Kapwani Kiwanga sowie Essays von Julie Pellegrin und Uta Ruhkamp. Erhältlich ab Ende Oktober für 39 € im Museumsshop oder unter kunstmuseum.de/shop.

Kapwani Kiwanga. Die Länge des Horizonts wird in Kooperation mit Copenhagen Contemporary realisiert, wo sie im Anschluss ab dem 25. Januar 2024 zu sehen sein wird.

Bildnachweis: Kapwani Kiwanga, pink-blue (2017)


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