ESTHER FERRER. ICH WERDE VON MEINEM LEBEN ERZÄHLEN
16. Oktober 2022 bis 22. Januar 2023
Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim
Esther Ferrer ist eine Performancekünstlerin der ersten Stunde und in Deutschland bislang kaum vorgestellt. Die vielseitige Künstlerin wurde 1937 in San Sebastián, Spanien, geboren und lebt seit 1973 dauerhaft in Paris. Der Ausstellungstitel Ich werde von meinem Leben erzählen geht auf eine gleichnamige Performance von Esther Ferrer zurück. Teil der Opelvillenschau sind vor allem Fotoserien, Modelle und Videos, die das Verstreichen von Zeit zum Thema haben und gleichzeitig ihr langjähriges, vielfältiges Werk dokumentieren.
Das Leben von Esther Ferrer begann während des Spanischen Bürgerkrieges 1937, in dem Jahr, als die baskische Stadt Guernica durch den Luftangriff der auf Seiten Francisco Francos kämpfenden deutschen und italienischen Truppen zerstört wurde und Pablo Picasso als Reaktion darauf sein ikonisches Werk Guernica schuf. Geboren im Krieg, wuchs Ferrer während der faschistischen Diktatur von Franco auf, der 1939 die Macht ergriffen hatte. Durch ihr Leben in San Sebastián, das im Norden Spaniens nur 20 Kilometer von der französischen Grenze entfernt liegt, war für Ferrer ein Grenzgang nicht schwer. In Frankreich war es ihr möglich, Zeitungen und Zeitschriften zu lesen und sogar Filme zu sehen, die in Spanien verboten waren. Bücher aus Frankreich mitzunehmen, war aufgrund der spanischen Grenzkontrollen komplizierter. Ende der 1960er-Jahre entschied sich Esther Ferrer, als Au-Pair-Mädchen nach Paris zu gehen, wo bereits ihre Zwillingsschwester Mathilde lebte. Dadurch bekamen die beiden Schwestern Gelegenheit, Museen, Galerien und Konzerte zu besuchen und sich Filme in der Cinémathèque française anzusehen.
Endgültig zog Esther Ferrer 1973 nach Paris. Nach ihrer Rückkehr kam Ferrer in Kontakt mit sehr aktiven feministischen Gruppierungen, die für ihre Rechte kämpften. Die Künstlerin erklärt, der Machismo sei keine spanische Besonderheit, sondern in allen Gesellschaften zu finden. Sie definiert Feminismus als einen Kampf für Freiheit und Gleichheit. Ihre feministische Perspektive sollte nicht nur in ihrem künstlerischen Werk eine wichtige Rolle spielen, sondern prägte auch ihre verschiedenen journalistischen Artikel, Berichte, Rezensionen, Reportagen und Interviews, die sie in mehr als zwei Jahrzehnten von 1976 bis 1997 in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte.
Ihre künstlerische Praxis begann in Spanien in der späten Franco-Zeit. 1963 gründeten Esther Ferrer und José Antonio Sistiaga (ein 1932 geborener Maler aus San Sebastián) eine freie Workshop-Schule (Taller de Libre Expresión) in San Sebastián nach der Freinet-Pädagogik, die Ferrer in Paris kennengelernt hatte. Kinder konnten frei zwischen Materialien und Techniken wählen, ohne im Gestaltungsprozess korrigiert zu werden. Später machten sie einen ähnlichen Versuch in Elorrio, die Situation dort gestaltete sich aber aus verschiedenen Gründen als schwieriger.
Obwohl Esther Ferrer die Performance als Kunstform und die Arbeit von John Cage (1912–1992) und von Fluxus kannte, führte sie ihre erste Performance erst 1966 in San Sebastián in der Asociación Artística de Gipuzkoa auf. 1967 suchte die Gruppe ZAJ, gegründet von Ramón Barce (1928-2008), Walter Marchetti (1931–2015) und Juan Hildalgo (1927–2018) eine Künstlerin für ein Projekt im Museo de San Telmo in San Sebastián. Ferrer willigte ein und so entstand die Zusammenarbeit mit der Gruppe ZAJ, die über 30 Jahre währen sollte. Von diesem Moment an entwarf die Künstlerin ihre eigenen Performances mit und ohne die Gruppe, denn sie wollte ihre Unabhängigkeit nie aufgeben.
Ferrer, Hidalgo und Marchetti brachten mit ihren avantgardistischen Arbeiten die radikalsten internationalen Kunstströmungen in das Spanien Francos. Aufgrund des großen Interesses an den Performances außerhalb Spaniens begab sich die Gruppe 1968 auf Tournee durch Europa und Deutschland. Esther Ferrer lernte John Cage schließlich 1972 in Pamplona persönlich kennen, während des internationalen Kunstfestivals Los Encuentros de Pamplona, das mehr als 350 Künstler aus verschiedenen Bereichen wie elektronische Kunst, Performance, Videokunst, Poesie, Malerei, Bildhauerei, Film und experimentelle Musik zusammenbrachte. Begeistert von den ZAJ-Performances organisierte Cage eine USA-Tournee von Januar bis Februar 1973.
Die Gruppe ZAJ leistete Pionierarbeit, indem sie Werke und Ideen von John Cage nach Spanien brachte, der eine entscheidende Rolle für Esther Ferrers Werk spielen sollte. Wie der US-amerikanische Komponist stellt Ferrer Stille in ihren verschiedenen Formen – als physische Abwesenheit, als räumliche und auktoriale Leere, als Unterbrechung der Erzählung usw. – in den Mittelpunkt ihres Werks, ebenso wie die Wirkung des Zufalls. Auch Ferrer betont eine bewusst prozesshafte und offene Herangehensweise, wobei sie eine strukturelle Ordnung nicht ausschließt.
Ferner bildet der Feminismus eine wesentliche Richtlinie in ihrem Werk und ist Ausgangspunkt vieler Arbeiten. In den 1970er-Jahren fing Esther Ferrer wie andere Künstlerinnen an, weibliche Identität als kulturelles Konstrukt in einem patriarchalen System zu hinterfragen. Ferrer begreift Identität als etwas Unvollständiges, der ein Prozess der ständigen Veränderung eingeschrieben ist. Für die Künstlerin ist Identität konstruiert, transformiert, in Zeit und Raum zu begreifen: Identität könne expandiert werden, könne entdeckt werden und verändere sich mit den Aktionen von anderen. Esther Ferrer betont immer wieder, dass es sich bei den fotografischen Aufnahmen ihres eigenen Gesichts nicht um Selbstporträts, sondern vielmehr um eine Arbeit über Zeit handelt. Nicht sich selbst, sondern Zeit durch Spuren darzustellen, ist ihre Intention, für die sie ihren Körper oder einen bestimmten Teil ihres Körpers als Medium und Rohmaterial verwendet.
Den Körper als künstlerisches Element zu nutzen, kennzeichnet das gesamte Werk von Esther Ferrer. In ihrer sechzigjährigen Kunstpraxis gelang es ihr, ein multidisziplinäres und zutiefst kritisches Werk in der Tradition der Prozesskunst zu schaffen, in dem sie die Grenzen von Sprache und Zeit neu zieht und den Körper in den Mittelpunkt stellt und ihn sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt macht.
In Kooperation mit Acción Cultural Española.
Kuratorin: Dr. Beate Kemfert, Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim Ausstellungsdauer: 16. Oktober 2022 bis 22. Januar 2023 Eintritt: 8 €, ermäßigt 4 €, Familienkarte: 12 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre und Mitglieder des Freundeskreises der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim Ort: Opelvillen, Ludwig-Dörfler-Allee 9, 65428 Rüsselsheim Öffnungszeiten: Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. 14–18 Uhr, So. 10–18 Uhr Sonderöffnungszeiten: 1. Weihnachtsfeiertag, Sonntag, 25. Dezember 2022, 2. Weihnachtsfeiertag, Montag, 26. Dezember 2022, jeweils 10–18 Uhr mit öffentlicher Führung um 15 Uhr und Neujahr, Sonntag, 1. Januar 2023, 12–18 Uhr
Katalog: Online-Publikation ab 16. Oktober
Veranstaltung: Performance »Ich werde von meinem Leben erzählen« von Esther Ferrer zur Vernissage am Sonntag, 16. Oktober um 16 Uhr. Die Künstlerin ist anwesend. Karten im Vorverkauf ab September.
Bildnachweis: Esther Ferrer, Manos feministas, 1977 © Esther Ferrer & VG Bild-Kunst, Bonn 2022
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