21. Juni – 10. August 2024
Thomas Rehbein Galerie


Zeit ist etwas Allgegenwärtiges, etwas stetig Fortlaufendes, etwas immer Passierendes. Und gleichzeitig ist Zeit eine Instanz, die nur wahrnehmbar ist durch ihre Kausalität – sie ist etwas an sich Unsichtbares, etwas Subtiles, und doch Bestimmendes. Zeit entscheidet über unser Dasein, unsere Existenz, und steht leitend über dem Voranschreiten des eigenen Lebens. Die Relation von Zeit und Raum in unserer Wahrnehmung ist variabel: unabhängig voneinander und doch ineinander übergreifend geschehen sie. Grundsätzlich empfindet der Mensch sie als voneinander getrennt. So kann die Wirkung eines Geschehnisses nicht früher, als ihre Ursache eintreten. Inwiefern haben wir die Kontrolle, sind wir Auslöser von Kettenreaktionen im Zeit-Raum-Verhältnis und somit im Weltgeschehen? Inwiefern sind wir untergeordnet?

Die US-amerikanische Künstlerin Dove Bradshaw (*1949, New York) zeigt in er Ausstellung Elements: The Devil Is On the Earth zwei Serien ihres umfangreichen Œuvres. In der Serie Contingency führt Bradshaw die Dimension der Zeit im Raum ein, durch Materialien, die mit veränderlichen Chemikalien behandelt werden. Sie macht das Voranschreiten der Zeit sichtbar, indem ihre Werke sich reaktiv mit ihr verbinden, sich in ihrem gegebenen Raum entwickeln. Sie macht das Wechselspiel erfahrbar zwischen dem Einfluss des Menschen, der eine Entscheidung zu einer Handlung trifft, und der Zeit, die mit dieser Entscheidung unter ihren Bedingungen umgeht, und die Folgen bestimmt. Kann der Mensch sich den Konsequenzen seiner Handlungen bewusst sein, so weiß die Zeit mit Sicherheit um sie – und konkretisiert sie wahrnehmbar als klare Folge. Diese Zeitkonsequenzen werden durch natürliche Eventualität, strukturierten Zufall und somit gleichzeitig durch Möglichkeiten geschrieben. Veränderung ist das treibende Motiv ihrer Arbeit in dieser Serie.

Die Serie Elements dreht sich nicht um den Aspekt der Zeit. Dove Bradshaw formt die chemischen Elemente und transferiert sie in konkrete Gegenstände, die zu mythologischen Requisiten werden, und ihnen eine Geschichte geben. Die Serie lebt von einer Erzählung aus Widersprüchlichkeiten. Für diese nutzt sie als Material acht Elemente des Periodensystems: Gold, Silber, Blei, Arsen, Schwefel, Quecksilber, Kadmium und Kupfer. Die Chemikalien sind jeweils mit einem bestimmten Rätsel, einem Märchen, einem Mythos oder einer sozialen Gegebenheit verbunden. Sie wurden in realistischen Formen als Objekte, als Träger materialisiert. Die Entfaltung der Sprache der Werke liegt hier nicht in ihrer Unfertigkeit beziehungsweise Weiterentwicklung, sondern in der Weiterführung durch einen mythologischen, erzählerischen Wert, der in der Referenz des Dargestellten, in Verbindung mit der Bedeutung der einzelnen chemischen Elemente liegt. Nicht reaktiv, sondern symbolisch. Dove Bradshaw entwickelt eine Poetik der Möglichkeiten, eine Analyse der Freiheit und erforscht das Potenzial der Unberechenbarkeit sowie der metaphorischen Referenz von Erzählung und Material.

In der Ausstellung Elements: The Devil Is On the Earth wird diesen Parametern ein Raum gegeben, der ihre Zeitlichkeit ohne klassische Zeitmessung untersucht. Ihre konzeptuellen dreidimensionalen, als auch zweidimensionalen Arbeiten entstehen mit und durch die Verwendung von chemischen Elementen. Auf diese Weise sind die beiden Serien miteinander verbunden und gegenübergestellt. Dadurch wird das philosophische Konzept der Kontingenz und die Entfaltung des eigenständigen Potenzials des Kunstwerks kontrastiert von chemischen Elementen, mit denen die Künstlerin skulptural und erzählerisch umgeht.

Contingency

Kontingenz beschreibt, „das, was passiert“, den Zufall, ein Gegensatz zu dem Notwendigen. Kontingenz ist die Möglichkeit, dass etwas eintritt oder eben nicht eintritt, oder dass es grundsätzlich ganz anders sein könnte, als es ist. Sie ist nah verwandt mit dem Zufall und der Frage nach dem, was sein könnte in der Zukunft. War Aristoteles der Meinung, dass es unvorhersehbar sei, welche Konsequenzen menschliches
Handeln nach sich zieht, so gibt es andere Meinungen von strenger Kausalität und Vorhersehung. Kontingenz kann auch auf das menschliche Sein bezogen werden. Das Sein ohne Grund, das Sein ohne Notwendigkeit, was sowohl Quelle der Angst als auch der Freiheit sein kann. Kontingenz stellt die Suche nach allgemeingültigen Naturgesetzen infrage.
Dove Bradshaw untersucht die metaphysischen Aspekte von Naturgesetzen und organischer Ästhetik, unter der Einflussnahme von Kontingenz, Zufall und Unbestimmtheit als gestalterische Prinzipien.

“Great variety occurred by the imprecise mix of the chemical and the time of year when activated and whether they were done inside or out.” (Dove Bradshaw)
In der zeitbasierten Serie Contingency erprobt Bradshaw die unberechenbaren Auswirkungen von Zeit, Wetter, Erosion und Witterungsverhältnissen, in Zusammenspiel mit natürlichen, chemischen und künstlich hergestellten Substanzen. Sie nutzt die „Handlungsfreiheit der Chemie“ (John Cage) und behandelt Oberflächen aus Blattsilber auf Papier oder Leinwand sowie reine Silberblätter, und bedeckt oder beträufelt sie mit Schwefel, oder bewirft sie mit schwefelbehafteten Stöcken und Steinen. Die Nutzung dieser Gegenstände als formgebende Faktoren sind einem Zufall zuzuschreiben: Im Obstgarten ihres Landes hatte ein Bär einen Zweig von ihrem Zwergpfirsichbaum abgerissen. “That loss prompted me to use it in a virgin linen that had already been silvered. While it lay flat, I threw the branch adding garden clippings for a chance composition.” (Dove Bradshaw)
Dieser Moment, den die Künstlerin als Durchbruch für diese Serie empfand, setzte sich in späteren Arbeiten fort, in dem sie zufällig gefundenes Holz, das sie entlang des Hudson Rivers sammelte, auf die Leinwand warf. “Sometimes stones were also set, but under each branch or stone the liver of sulfur was loosely painted and then they were replaced. Immediately the silver sulfurized.” (Dove Bradshaw) Der weitere Prozess der Arbeiten ist nur im Groben vorhersehbar: Die Kombination der Chemikalien lässt das Silber vorerst einen goldenen Farbton annehmen, dann nehmen die Arbeiten einen blauen bis dunkelgrünen Farbton an, und zuletzt dunkelt das ganze Werk so stark ab, dass es fast vollkommen in ein Schwarz übergeht. Das Bild strebt mit der Zeit also in die Schwärze. Die künstlerische Aktivierung stellt den Ausgangspunkt der Arbeit dar und löst die chemische Interaktion auslöst. Nach dem Installieren dieser Eingangssituation greift sie nicht weiter in den Entwicklungsprozess ein. “As I grew older, I contradicted my first instinct, halting the changes with varnish, while leaving some to develop over time.” (Dove Bradshaw)
In einigen ihrer Arbeiten stoppt sie den Prozess, indem sie einen versiegelnden Lack anwendet, andere entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter, teilweise über Jahrzehnte. Manche Arbeiten bleiben unvollendet.
Sie überlässt den natürlichen Formungskräften oder chemischen Reaktionen die Vollendung ihrer Arbeit.

Die zeitbasierten Arbeiten heben die Dimension der Veränderung in normalerweise statischen Medien hervor. Für die Unvorhersehbarkeit des Zusammenspiels natürlicher und chemischer Substanzen fungiert Bradshaw als Aktivatorin für die Erstellung der Form – und überlässt die Arbeiten dann sich selbst und ihrem Umfeld. Die Contingency Arbeiten behaupten sich durch eine Schönheit, die sich im Zufall findet.
Die Künstlerin nutzt die Autonomie der Kunstwerke als kontingentes Konzept der Ästhetik. Autonomie, Kontrolle und Abhängigkeit zwischen Werk und Künstlerin, Werk und Material, Werk, Raum und Zeit, verwischen und changieren. Dove Bradshaw malt mit dem Zufall. Sie bezeichnet die Arbeiten in ihrer Serie Contingency als „paintings“. Ihre gestalterischen Versuche zeigten ihr im Laufe der Zeit, dass das aleatorische Moment zufälliger Reaktionen stets Kompositionen aufweist, die malerische Komponente hervorbringen. Dass auf den Zufall und die Natur und ihre Wege der Entwicklungen vertraut werden kann, wenn ein bewusster Impuls von ihr gesetzt wurde. Die poetische Ästhetik, der Rahmen jeder ihrer Arbeiten, ist von der Künstlerin als Basis gegeben. Die Entwicklung ist angeleiteter Zufall. “Bradshaw’s work is willing to give of itself and to change itself, and without losing itself.” – John Cage.

Elements

The Devil Is On the Earth – der Teufel ist auf der Erde. In Form einer Büste erkennt man das Portrait von William Anastasi (*1933 – †2023). Das Material der Skulptur ist untypisch: es handelt sich um Schwefel. Carl Gustav Jung nannte Schwefel „die Seele der Metalle und der Lebewesen“. Verbunden mit einer persönlichen Lebensgeschichte der Künstlerin stellt sie ihren Ehemann als Luzifer dar — den Lichtbringer, den gefallenen Engel. Verstoßen aus dem Paradies aufgrund niederer Triebe, auf die Erde gefallen als Teufel. Schwefel ist dem männlichen Prinzip, der Farbe Gold und dem Feuer zugeordnet.

Das Ei aus Gold trägt den Titel Nothing und referiert auf die leere Hülle, die es ist. Es veredelt den Aspekt des einstigen Lebens in ihm, von dem es nun bloß noch das Gehäuse darstellt, welches die Geburt des Lebewesens durch das Aufgebrochensein beweist.

Die zerborstenen kleinen Silberobjekte in paarweiser Ausführung sind Projektile, die abgefeuert wurden. 1979 formte Bradshaw vom NYPD zur Probe abgeschossene Patronenkugeln ab und goss sie in Silber – eine utopische Geste, die die Umnutzung tödlicher Waffen propagieren sollte, unterstreicht vor allem den Aspekt, dass Bradshaw sie als Ohrringe reinszeniert. Mit diesem Symbol verwirft sie seine potenzielle Tödlichkeit und übersetzt es als Schmuckstück: “They are better worn on the outside.” (Dove Bradshaw. Trotz des dekorativen Aspektes zeugen die ehemals letalen Objekte von der dünnen Schwelle zwischen Leben und Tod. Die Feder, die als realer Gegenstand der leichteste der dargestellten Objekte ist, wird in das im Volksmund schwerste Material übersetzt – in Blei. Tatsächlich ist Blei nicht schwerer als beispielsweise Gold, jedoch wird dies allgemein angenommen und erzielt damit seine Wirkung in Bezug auf die Darstellung einer Feder. Bleischwer und federleicht, starr und formbar, am Boden verhaftet und zum Fliegen befähigend, stehen sich hier zwei gegensätzliche Prinzipien in ein und derselben Figur gegenüber.

Arsen ist ein toxisches Halbmetall, das auch in Apfelkernen zu finden ist. Bradshaw verwendet das durch den Sündenfall aufgeladene Symbol des Apfels in der Arbeit Eden Myth und formt die Skulptur aus seinen Kernen. Die Giftigkeit und Gefährlichkeit des Kerns nimmt somit den Ausdruck der Erbsünde selbst an. Verräterisch statt versteckt präsentiert das Objekt seine Gefahr dem Menschen gegenüber, anstelle ihn zu verführen. “The deadly element itself symbolically introduced death into Eden.“ (Dove Bradshaw)

Die kleine Statue Mercury aus Porzellan, trägt ein Quecksilberthermometer. Der Gott der Reise ist auch der Gott der Medizin. Er arbeitet hermetisch als Botschafter und als Vermittler zwischen Leben und Tod. Als Träger des Merkurstabs oder Äskulapstabs, um den sich zwei geflügelte Schlangen schlängeln, hält er das Symbol für Medizin und Gesundheit. Darin eingebettet ist in Bradshaws Skulptur das Thermometer. Steht auf der einen Seite die Toxizität des Elements Quecksilber, so kann doch seine lebenserhaltende und helfende Wirkung durch das Thermometer als paradoxes Symbol eines gemeinsamen Trägers betrachtet werden.

Ein Dorn ist oft das Beiprodukt, der Schutz für eine schöne Blüte, für Pflanzen oder Tiere. Gleichzeitig ist sie ein kulturelles und vor allem christliches Symbol für die Passion, für Leid und für Aufopferung. Es trägt die Konnotation für das Verräterische im Schönen. Aus Cadmium geformt, repräsentiert der Dorn die hohe Giftigkeit der Chemikalie, welche oft für Farbstoffe im Kunstbetrieb genutzt wurden und immer noch wird.

Die Gebärmutter aus Glas, dargestellt mit einer Rose, referiert auf das menschliche Organ, das für den Ausgangspunkt eines neuen Lebens steht. Gleichzeitig wirkt das eingesetzte Kupfer aufgrund seiner Toxizität in der Gebärmutter als Intrauterinpessar (IUD) empfängnisverhütend. “The rose signifies the pleasure of sex for women without its consequences. As Cindi Lauper sang in the 80s, “Girls just wanna have fun,” adding after the fall, ‘Girls just wanna have funDAMENTAL rights!’ ” (Dove Bradshaw)

Den Betrachtenden wird durch die eher kleinformatigen Objekte eine Art von mythologischer Reise zwischen Himmel oder dem verlorenen Paradies Eden, der Hölle und dem Tod dargeboten. Deutlich wird, dass sich auf der Welt oft nichts näher ist als Paradoxa. Dass Paradoxa sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern oft sogar gegenseitig bedingen, nahe und verwischende Grenzen zwischeneinander haben, selbst wenn sich zwei einander entgegengesetzten Pole auf dem Extrem ein und derselben Skala an Bedeutung zu bewegen scheinen. Alfred Jarry beobachtete: “Opposites are identical”.

Die Objekte sind, anders als die Werke aus der Serie Contingency, statisch in ihrer Form. Sie zeigen den Verlauf der Zeit auf einer metaphorischeren und erzählerischeren Ebene, einer erzählten Zeit, indem sie Verweisgegenstände sind.

Der alchimistische Aspekt wird durch die zusätzlichen Bedeutungen der einzelnen Metalle gegeben. Material, Objekt, Geschichte, Raum und Konsens werden so ineinander verwoben, dass Zeit und Zeitlichkeit sowie Leben und Tod weitergeführt werden und konkrete Bedeutungsträger zugewiesen bekommen. Die künstlerische Entscheidung ist klar im Objekt, auf der sprachlichen Ebene jedoch in viele Richtungen offen. Wird in Contingency Zeit visuell und ästhetisch erfahrbar, so wird sie in der Elements Serie, in Objekten wie in prosaischen Erzählungen fortgeführt.

Dove Bradshaw führt uns in Elements: The Devil Is On the Earth ein in die Chemie, und in das poetische Potenzial ebendieser. Sie führt uns zurück zu dem Grundgegebenen, auf dem unsere Körper und alles Manifeste auf der Erde beruht. Es zeigt uns im kleinen, vereinfachten und künstlerischen, wie Wechselwirkungen in der Natur passieren. Sie deutet uns an, dass es eine begrenzte Anzahl von Elementen gibt, dass die Kombination aus diesen jedoch die Anzahl an Möglichkeiten mit Milliarden multipliziert. Sie akzeptiert die ahierarchische Verbindung des Menschen mit dem Material, entwirft konzeptuelle Strategien, die künstlerische Intention und Kontrolle in gewissem Maße unterbinden, und die Künstlerin sich somit der Natur unterwirft. Bradshaw zeigt uns, wie die Auswahl an Materialien, den exponentiellen Verlauf anstoßen kann und wie unterschiedlich die Resultate aussehen können. Wie sie aleatorisch und schöpferisch den Würfel wirft, und die Zahl der Kreation vom Zufall bestimmt wird.

Elisa Mosch, 2024

Bildnachweis: Dove Bradshaw: The Devil Is On the Earth, 2017/2018, Sulfur, Life size


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