25. Juli 2023 – 31. Januar 2024
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen


Lücken und Leerstellen
Wegweisende Künstlerinnen der Moderne

Im Horizont globaler Veränderungen erweitert die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen die eigene Sammlungspräsentation und reflektiert die Rolle des Museums im 21. Jahrhundert. Mit dem Ziel den kunsthistorischen Kanon für neue Perspektiven zu öffnen, werden in einem neu eingerichteten Raum in K20 aktuelle Fragen an die Sammlung, ihre Entstehungsgeschichte und ihre historisch gewachsene Struktur herangetragen. Das dritte Kapitel der Reihe „Die Sammlung. Befragen und Weiterdenken“ präsentiert Schlüsselwerke von Marianne Werefkin, Sonia Delaunay und Louise Bourgeois und zeigt die Kunst von wegweisenden Künstlerinnen der Moderne, die noch nicht Teil der Sammlung sind. Die erste Sammlungsintervention widmete sich der Geschichte des 1961 gegründeten Museums. Das zweite Kapitel untersuchte die Frage, wie die Kunstsammlung mit kolonialen Denkmustern in der Sammlung umgeht. Jetzt widmet sich die dritte Präsentation den bestehenden Lücken und Leerstellen in der Sammlung und würdigt die Beiträge von Künstlerinnen zur vielstimmigen Entwicklung der modernen Kunst.

Wie viele moderne Museen zählt auch die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ungleich mehr Werke von Künstlern als von Künstlerinnen. Von 1962 bis 1990 sind unter dem Gründungsdirektor Werner Schmalenbach lediglich drei Werke von Künstlerinnen in die Sammlung eingegangen: zwei Gemälde von Maria Helena Vieira da Silva und als Schenkung eine Wandarbeit von Lee Bontecou. Seit 1997 sind im Horizont feministischer, ökologischer und sozialer Debatten mehrere hundert Werke von Gegenwartskünstlerinnen für die Sammlung erworben worden. Darunter befinden sich Gemälde, Skulpturen und großformatige Installationen von Rosemarie Trockel, Maria Lassnig und Katharina Fritsch.

In den letzten sechs Jahren konnte die Kunstsammlung erste Schlüsselwerke von modernen Künstlerinnen erwerben. Dazu zählen Gemälde von Etel Adnan, Paula Modersohn-Becker, Gabriele Münter, Alice Neel und Lygia Pape. Heute sind sie zusammen mit Werken von Pablo Picasso, Henri Matisse und Wassily Kandinsky in den Sammlungsräumen zu sehen. Diese Neuerwerbungen markieren die ersten Schritte in einem langfristigen Prozess, um das Museum vielstimmiger, pluraler und inklusiver zu gestalten. Auch in Zukunft erwirbt die Kunstsammlung gezielt Kunstwerke von Künstlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts, um bestehende kunsthistorische Lücken und Leerstellen in der Sammlungsstruktur zu schließen. Rückblickend widmet sie sich den Fragen: Wer waren die Künstlerinnen der Avantgarde? Wie haben Künstlerinnen die Abstraktion und den Begriff der Moderne geprägt? Welche sozialen und ästhetischen Bezugspunkte gab es zwischen Künstlern und Künstlerinnen? Viele dieser vergessenen Geschichten wurden von Kunsthistorikerinnen wie Linda Nochlin, Griselda Pollock und Susanne von Falkenhausen im Horizont ihrer genderkritischen Studien Jahren aufgearbeitet, andere bleiben bis heute unerzählt. „Die Sammlung. Befragen und Weiterdenken“ würdigt nun das Werk von Künstlerinnen aus drei Generationen. Die Präsentation veranschaulicht die Ankaufsziele und Forschungen des Museums und zeigt zugleich, welche bahnbrechenden Beiträge Künstlerinnen für die Entwicklung der modernen Kunst geleistet haben. Präsentiert werden Kunstwerke von Marianne von Werefkin, Sonia Delaunay-Terk und Louise Bourgeois. In der Kunstsammlung sind diese Künstlerinnen aufgrund der Geschichte des Museums und der Sammlungsstruktur noch nicht repräsentiert. Nun bietet ihnen die Kunstsammlung mit dieser Präsentation den Platz, den sie längst verdient haben.

Marianne von Werefkin (1860–1938) ist eine Schlüsselfigur des europäischen Expressionismus. In ihren Werken zeigt sich der Wandel vom akademischen Realismus zur ausdrucksstarken Abstraktion. 1909 war sie Gründungsmitglied der Neuen Künstlervereinigung München, öffnete ihre Wohnung für Salongespräche und organisierte Ausstellungen der Avantgarde. Sie war Malerin und zugleich eine engagierte Förderin für andere Künstlerinnen.

Geboren in Tula, einer Großstadt im damaligen Russischen Reich, wurde sie als Privatschülerin des Malers Ilja Repin, dem zentralen Vertreter des sogenannten Russischen Realismus, ausgebildet. Später löste sich Werefkin von der akademischen Malerei. Mit dem jüngeren Maler Alexej von Jawlensky ging sie nach München. Ab 1907 entstanden dort ihre ersten expressionistischen Bilder. Gemeinsam mit Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Franz Marc und Alexej von Jawlensky zählte sie zur künstlerischen Avantgarde und war eine wichtige Figur in Künstler*innengruppen wie Der Blaue Reiter und Der Sturm.

Sonia Delaunay-Terk (1885–1979) ist eine bedeutende Vertreterin der geometrischen Abstraktion. In ihrer Malerei experimentierte sie mit der Kraft von Form, Farbe und Licht. 1912 prägte der Kritiker Guillaume Apollinaire den Begriff des Orphismus für ihre Abstraktionen. Neben der Malerei war Delaunay in den Bereichen Mode, Design und Kostümbild aktiv. Ihre künstlerischen Neuerungen machten sie zu einer zentralen Figur der Pariser Avantgarde.

Delaunay wurde im heutigen ukrainischen Hradysk geboren, eine Stadt, die damals zum Gebiet des Russischen Reichs gehörte. Zusammen mit ihrem Mann Robert Delaunay lebte sie in Paris, Spanien, Portugal und Südfrankreich. Als Tochter einer jüdischen Familie überlebte sie die Shoah ohne Frankreich während des Zweiten Weltkrieges zu verlassen. Im hohen Alter von 94 starb sie in Paris. Heute wird ihr künstlerisches Schaffen in zahlreichen internationalen Museumsausstellungen gewürdigt.

Louise Bourgeois (1911–2010) ist eine Pionierin der Gegenwartskunst. Mit ihren Installationen, Skulpturen und Textilarbeiten revolutionierte sie die moderne Kunst. Ihre meist autobiografischen Werke berühren das Unbewusste und erzählen von Schmerz, Angst und Wiedergutmachung. 1982 wurde sie durch ihre Retrospektive im Museum of Modern Art in New York international berühmt. Heute zählt sie zu den wichtigsten Künstler*innen der Gegenwart.

In Paris geboren, studierte Bourgeois Mathematik, Kunstgeschichte und Bildende Kunst. Ihre Familie betrieb eine Restaurierungswerkstatt für Textilien und Teppiche. 1938 zog sie mit ihrem Mann Robert Goldwater von Paris nach New York. Das Paar hatte drei Söhne. In New York widmete sich Bourgeois zunächst der Ölmalerei, Grafik und Zeichnung. Ab Ende der 1940er Jahre entstanden erste dreidimensionale Kunstwerke. Bourgeois brach mit der modernen Gattungslogik und brachte raumgreifende Skulpturen und Installationen hervor. 1999 gewann sie bei der 48. Venedig Biennale den Golden Löwen für ihr Lebenswerk. Sie starb im hohen Alter von 98 Jahren in New York.

Kuratorin: Vivien Trommer, Sammlungsleiterin

Bildnachweis: Sonia Delaunay-Terk, Marché au Minho, um 1915 – 1916, Öl und Enkaustik auf Leinwand, 113 cm x 139,5 cm, Privatsammlung Schweiz


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