CONCRETE EXPERIENCE
10. Februar – 16. April 2023
Badischer Kunstverein
In enger Verknüpfung mit Ilse Garniers Ausstellung präsentiert Concrete Experience eine Gruppe von Künstlerinnen und Poetinnen der 1960er und 70er Jahre, die auf die sympoietische Beziehung zwischen dem erweiterten konkreten Gedicht und der Erfahrung des wahrnehmenden Körpers aufmerksam machen. Concrete Experience vereint Textarbeiten, Skulpturen, Installationen, Soundaktivierungen, Performances und Konversationen.
Die Auswahl der Arbeiten, die mit Lily Greenhams Musikstück Experience aus dem Album Tendentious Neo-Semantics (1970) klangvoll eröffnet, lädt uns zu einem spielerischen und intermedialen Lesen der Entstehungsgeschichten von Gedichten ein. Andere Werke der Ausstellung lassen die Grenzen zwischen Sinnlichkeit und Bedeutung, zwischen Verbalem und Nonverbalem verschwimmen und können auf ähnliche Weise als Partituren für eine gelebte Poesie gelesen werden: Betty Danons Arbeiten aus der Serie Partitura Asemantica (1973) und Liliane Lijns Neurographs (1971) entwickeln beispielsweise neue und autonome Sprachen, indem sie Strukturelemente und Codes aus dem Bereich der Musik, der Technik und der Wissenschaft übertragen. Mit Poem Game (1970) öffnet Lijn das Feld der materiellen Poesie für generative, performative und soziopolitische Dimensionen. Poem Game ist ein Kartenset, aber vor allem ist es eine Casino-Performance, in der die Künstlerin das Publikum einlädt, kollektiv zu spielen und sich anhand der Textkarten mit Begriffen wie Identität, Sprache und Macht kritisch auseinanderzusetzen. Teile des Casinos sind in der Ausstellung zu sehen und werden im Rahmenprogramm von der Künstlerin und eines von ihr angeleiteten Croupiers an einem Spielabend aktiviert.
Unter Erfahrung ist sowohl die Erfahrung der Leser:innen, als auch die der Dichterinnen zu verstehen. So widmet sich Irma Blank (*1934) einer Form des Schreibens, die nichts darstellen möchte, sondern einfach nur ist. Es entsteht eine dynamische Poesie der Präsenz, die in ihrer Geste zwischen Autorin und den Leser:innen widerhallt. Wanda Gołkowskas (1925–2013) Arbeiten sind wiederum von Selbstreflexivität und Aufmerksamkeit geprägt und laden dazu ein, über die Überproduktion und Überfrachtung mit Informationen, die deren Integrität und Authentizität gefährden, nachzudenken. Reflexivität kann auch in der Dokumentation des Entstehungsprozesses eines Gedichts anschaulich werden, in diesem Fall in Mirella Bentivoglios De H a E (1978). In einer Bauwerkstatt wird gezeigt, wie in dem Herstellungsprozess der Buchstabe H zum Buchstaben E wird, sich dabei nicht nur materiell, sondern auch vom Buchstaben zur Sprache verändert.
Weit davon entfernt, ein statisches Objekt in Raum und Zeit zu sein, kann das Gedicht auch als ein fortlaufender Prozess oder als kontinuierliche Gegenwart aufgefasst werden, wie im Fall von Ana Hatherlys Alfabeto estrutural (1967). Dieses Werk besteht aus einer Reihe von neun Durchführungen einer Formveränderung durch die abstrakte, geometrische Motive strukturell wie eine Sprache angeordnet werden. Es ist zugleich ein neues Schreib- und Sprachsystem, das von den Leser:innen über die Grenzen der Arbeit fortgesetzt werden kann. Durch die Praxis der japanischen Shodo-Kalligrafie dekonstruiert und rekonstruiert die Künstlerin Chima Sunada (*1944) Ideogramme und lädt dazu ein, die mehrdeutigen Modifikationen von Bedeutung durch den Akt des Schreibens zu erfahren. Die in Concrete Experience ausgewählten Arbeiten Sunadas offenbaren ihre gestische und spekulative Recherche zu piktografischen Etymologien. Wenn wir das Wissen der Erfahrung und des Kontakts als Berührung und des Berührtwerdens erleben sollen, so bietet Annalisa Alloattis Cecità (1967) eine meditative Reflexion über die Poesie und Materialität der Brailleschrift (internationale Blindenschrift). Für Alloatti ist diese Schrift eine Sprache der Sinne in Beziehung zueinander oder eine bindende Energie des Dazwischen: der Bedeutung, des Visuellen und des Haptischen.
Bildnachweis: Liliane Lijn, Power Game, 1974. Foto: Neil Gullive
Kuratiert von Alex Balgiu und Anja Casser, initiiert mit Andrew Hunt.
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