20. Juni bis 15. September 2024
Schirn Kunsthalle Frankfurt


PRESSEVORBESICHTIGUNG: MITTWOCH, 19. JUNI 2024, 11 UHR

POETISCH, KONFRONTATIV, ÜBERRASCHEND: DIE SCHIRN PRÄSENTIERT ZWEI NEUE WERKE DER KÜNSTLERIN SELMA SELMAN IN EINER GROSSEN SOLOSCHAU

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet der Künstlerin Selma Selman (*1991) vom 20. Juni bis zum 15. September 2024 eine große Soloausstellung. Erst vor wenigen Jahren ist sie selbstbewusst und kraftvoll in die internationale Kunstwelt vorgedrungen und bezeichnet sich selbst als „gefährlichste Frau der Welt“. Zusammen mit ihrer Familie schlachtet Selman vor Publikum einstige Statussymbole wie Mercedes-Benz-Autos aus, um an die wenigen noch verwendbaren Edelmetalle zu gelangen. Laut und eindringlich sind in der Regel auch die sprachlichen Performances der Künstlerin mit Rom*nja-Hintergrund, in denen Wut und der Drang nach einer Umkehrung der Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen. Selmans Kunst behandelt in unterschiedlichen Medien eindrucksvoll Erfahrungen mit Diskriminierung, Gewalt, Sexismus und dem Patriarchat. Ihr vielseitiges Werk umfasst Performances, Skulpturen, Malereien auf Autoteilen und Altmetall, Zeichnungen und Video. In der Schirn präsentiert die Künstlerin Grafiken, kleine skulpturale Arbeiten aus Edelmetallen und zwei Performances, die zentrale Aspekte ihres Œuvres aufgreifen, sowie zwei neu entwickelte Werke. Die Installation Flowers of Life (2024) aus Mehrschalengreifern verweist auf die Lebensgrundlage ihrer Familie, die auf dem Sammeln und dem Weiterverkauf von Metallschrott fußt. Die Videoarbeit Crossing the Blue Bridge (2024) basiert auf den Erinnerungen ihrer Mutter an Erlebnisse in ihrer Heimatstadt Bihać während des Bosnienkrieges (1992–1995). Selman nimmt diese familiären Erfahrungen als Ausgangspunkt, um sich selbst als feministisch-aktivistische Künstlerin zu verorten, die sich heute international für ihre Community einsetzt.

Die Ausstellung „Selma Selman. Flowers of Life“ wird gefördert durch die SCHIRN ZEITGENOSSEN mit zusätzlicher Unterstützung durch die Kummer-Vanotti-Stiftung und das Königreich der Niederlande.

Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, betont: „Selma Selman ist eine der energischsten Künstlerinnen der jungen Generation. In ihrem emanzipatorischen Werk arbeitet sie eng mit ihrer Familie zusammen. Sie überträgt mit ihren Performances die Lebensrealität nicht-privilegierter Minderheiten in den Ausstellungsraum. Selmans Arbeit fordert eine kulturelle und ökonomische Umdeutung scheinbar festgelegter Normen, Werte und Zuschreibungen. Für die Ausstellung in der Schirn hat die Künstlerin zwei neue, raumgreifende Arbeiten geschaffen. Darin bezieht sich die Künstlerin auf Traumata ihrer Elterngeneration und verarbeitet diese mit kraftvollen, poetischen Gesten.“

Matthias Ulrich, Kurator der Ausstellung, über die Künstlerin: „Selma Selman verbindet in ihrem Werk partizipative Kunst, Institutionskritik, Aktivismus und Performance. Im Mittelpunkt steht die Künstlerin selbst. Mit protestierender Stimme und visionärer Präsenz ergreift sie in ihrer Kunst das Wort. Sie führt sich selbst vor und setzt ihren Körper, ihre Stimme und ihre Identität als ein Medium ihrer künstlerischen Praxis sowie der Selbstermächtigung ein. Dabei sind reale soziale Veränderung und gesellschaftlicher Wandel, die Sichtbarmachung und die Stärkung marginalisierten Gruppen und ihrer Community stets das unbedingte Ziel ihrer Kunst.“

DIE WERKE DER AUSSTELLUNG

Im Zentrum der Ausstellung steht die eigens neu konzipierte und titelgebende Arbeit Flowers of Life (2024). Die raumeinnehmende Installation besteht aus vier gebrauchten Mehrschalengreifern, wie sie auf Baustellen oder Schrottplätzen zum Einsatz kommen. Selma Selmans Aneignung verwandelt die massiven Maschinen in blumenartige kinetische Skulpturen, deren Blüten sich mithilfe eines Motors langsam öffnen und schließen. Im Inneren enthüllen sie Malereien der Künstlerin. Mit Flowers of Life knüpft Selman an ihre bekannten Paintings on Metal (seit 2014) an, Arbeiten mit Altmetall, die zwischen Malerei und Skulptur changieren und auf den Schrotthandel ihrer Familie verweisen. Die sinnlich-florale Interpretation von Flowers of Life spielt mit der Umkehrung von männlichen und weiblichen Zuschreibungen und offenbart zugleich die Frauen als zentrale Trägerinnen der Gemeinschaft. Mit starker und wehrhafter Formensprache deutet Selman stigmatisierende Stereotype um, die die patriarchale Mehrheitsgesellschaft rund um die Kultur der Rom*nja und die Rolle der Frauen konstruiert hat.

Selmans Herkunft und die Einbeziehung ihrer Familie in ihre künstlerische Praxis sind integraler Bestandteil ihres Werkes. Insbesondere die intensive Zusammenarbeit mit ihrer Mutter dreht sich um autobiografische Erfahrungen, Sichtbarkeit und Emanzipation als Frau und Romni und hat sich bereits in zahlreichen Werken niedergeschlagen. Die Schirn präsentiert die neue filmische Arbeit Crossing the Blue Bridge (2024, 27:15 Min.) in einer Installation auf zwei Leinwänden. Crossing the Blue Bridge handelt vom Fortwirken historischer Traumata, von Fürsorge, Mut und Widerständigkeit. Selman schlüpft in die Rolle ihrer Mutter und reinszeniert deren Erinnerung. Der Film geht von Erlebnissen ihrer Mutter im Bosnienkrieg aus. An einem Tag der Waffenruhe im Jahr 1994 ging die Mutter mit Selmans Schwester in die Stadt, um Lebensmittel zu besorgen und musste auf dem Heimweg die mit Leichen und Tierkadavern übersäte Alija-Izetbegović-Brücke in Bihać überqueren. Beim Versuch die Augen des Kindes zu verdecken und zugleich den schweren Korb mit Lebensmittel zu tragen, wehte der starke Wind ihr die Haare ins Gesicht und verdeckte die Sicht. Selman wiederholt dieses Motiv in ihrer Inszenierung. In einem eindringlich vorgetragenen Text auf Englisch, Bosnisch und Romanes verbindet sie es u.a. mit Figuren der griechischen Mythologie und stilisiert ihre Mutter zu einer Heldin, die mitverantwortlich ist, dass sich ihre Tochter heute unter widrigsten Bedingungen zu behaupten weiß. Die blaue Brücke wird so auch zu einem Sinnbild für Selmans künstlerischen Aktivismus, mit dem sie neue Wege erschließt.

Die beiden großen Neuproduktionen werden in der Schirn durch weitere ausgewählte Arbeiten aus Selmans Werk ergänzt. Zwei scheinbar minimalistische Objekte sind aus intensiven Body-Art-Performances hervorgegangen. Platinum (Axe) (2021), eine Miniaturaxt aus Platin, entstand aus der 2021 erstmals aufgeführten mehrwöchigen Performance Platinum. Bei dieser bearbeitete sie mit ihrem Vater und weiteren männlichen Mitgliedern der Familie Autowracks im Ausstellungsraum mit Äxten und Winkelschleifern, um an das wertvolle Material in den Katalysatoren zu gelangen. Die daraus geformte Axt steht für ein Arbeitsmittel und wird im Ausstellungsraum zu einer kostbaren Skulptur, die geschützt in einer Vitrine ausgestellt wird. Motherboards (A Golden Nail) (2023), ein zehn Zentimeter langer vergoldeter Nagel, ist auf der Augenhöhe der Künstlerin im Ausstellungsraum angebracht und ein Extrakt der Aktion Motherboards (2023). Live vor Publikum zerlegte die Familie bei dieser Performance Computer und löste in einem aufwändigen Verfahren geringste Goldanteile aus den Hauptplatinen. Beide Performances verlagern die Praxis und Techniken des Altmetallverwertungsbetriebs direkt in den Kunstraum und werfen so Fragen zu gesellschaftlicher Werterzeugung und Wertschätzung sowie einer Nachhaltigkeit im Umgang mit Ressourcen auf.

Superpositional Intersectionalism – Sleeping Guards (2023), eine Serie von 16 Buntstiftzeichnungen auf rundem Papier, kreist um Selmans Selbstbildnis. Die Zeichnungen zeigen intime Betrachtungen von Frauenfiguren, deren Gesichter und Körper sich in surreale Mischwesen mit fluiden Identitäten verwandeln, sich ausdehnen und abstrakte Formen annehmen. Das in Selmans Werk wiederkehrende Motiv des eindringlichen Blicks eines Auges taucht in diesen Bildern erneut auf und referiert auf Identität und gesellschaftliche Zuschreibungen. Selman thematisiert hier auch die Möglichkeiten und Grenzen dessen, was sie sein kann – Frau, Künstlerin, Romni, international erfolgreicher Star, Tochter, Europäerin, Muslimin. Der Titel verbindet das aus der Quantenphysik kommende Phänomen der Superposition, bei dem ein Atom sich gleichzeitig in verschiedenen Zuständen befinden kann, mit dem Begriff der Intersektionalität, der das Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungsformen beschreibt.

Während der Laufzeit der Ausstellung finden zwei Live-Performances der Künstlerin statt. Selman zeigt zur Eröffnung You Have No Idea (seit 2015). Die eindringliche Performance kann je nach Situation zwischen fünf Minuten und eineinhalb Stunden dauern. Mit der kontinuierlichen Wiederholung des titelgebenden Satzes adressiert sie gesellschaftliche Zuschreibungen und konfrontiert das Publikum mit unbewussten Vorannahmen über andere Menschen. Zum Book Launch des Ausstellungskatalogs in der Schirn performt Selman die auf ihrem Instagram-Account erscheinende Arbeit Letters to Omer (seit 2021). In der sich fortsetzenden Serie von Briefen teilt die Künstlerin intime Gedanken, Wünsche und Visionen einer möglichen Zukunft mit einer fiktiven Figur namens Omer.

SELMA SELMAN stammt aus Bosnien und Herzegowina und lebt und arbeitet in New York, Amsterdam und Bihać. Nach ihrem Bachelor of Fine Arts an der Fakultät für Malerei der Universität Banja Luka 2014 schloss sie ihr Studium an der Syracuse University 2018 mit einem Master of Fine Arts in Transmedia, Visual and Performing Arts ab. Von 2021 bis 2023 war sie Stipendiatin an der Rijksakademie in Amsterdam. Ihre Werke wurden international gezeigt, u. a. im Gropius Bau, Hamburger Bahnhof, documenta fifteen, Manifesta 14 in Pristina, Kunstraum Innsbruck, MO Museum Vilnius, Kasseler Kunstverein Museum Fridericianum, National Gallery of Bosnia and Herzegovina, Abc Gallery und FutuRoma Pavillon auf der Biennale di Venezia 2019.

Seit 2017 richtet Selman in ihrer Heimatstad Bihać das Filmfestival „The Open Screen at Selma’s“ aus, das den Austausch der ansässigen Rom*nja mit interessiertem Publikum fördert. Mit „Get the Heck to School” (seit 2017) gründete sie zudem ein Projekt, das insbesondere jungen Romnja-Mädchen eine Schulbildung ermöglichen soll.

Crossing the Blue Bridge ist eine Gemeinschaftsproduktion von der Schirn Kunsthalle Frankfurt, der Röda Sten Konsthall in Göteborg sowie der europäischen Kulturhauptstadt Bad Ischl – Salzkammergut 2024.

Die Ausstellung wird u. a. gefördert durch die SCHIRN ZEITGENOSSEN, einem Kreis privater Förderer junger Kunst an der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Die Schirn dankt Jan Bauer und Lena Wallenhorst, Jochen und Anja Baumann, Olaf Gerber und Nicole Emmerling de Oliveira, Markus Hammer und Birgit Heller, Philip Holzer, Björn Robens, Reiner Sachs und Brigitta Bailly, Julia Schönbohm und Ralf Böckle, Hartmut und Petra Schröter sowie Sascha und Sevilay Wilhelm für ihr Engagement.

OPENING Zur Eröffnung der Ausstellung „Flowers of Life“ am Mittwoch, 19. Juni 2024, 19 Uhr präsentiert die Künstlerin Selma Selman die Performance You Have No Idea. Im Anschluss gibt es ein DJ-Set von Shantel. Eintritt frei, ohne Anmeldung

ARTIST TALK Am Donnerstag, den 20. Juni 2024, um 19.30 Uhr sprechen Selma Selman und Schirn Kurator Matthias Ulrich über die Werke und Konzeption der Ausstellung. Eintritt frei, Teilnehmerzahl begrenzt, Reservierung im Onlineshop unter schirn.de/shop, Resttickets an der Schirn Kasse am Veranstaltungstag

KATALOG Selma Selman. Flowers of Life herausgegeben von Matthias Ulrich, mit Beiträgen von Theresa Dettinger, Catherine Nichols und Matthias Ulrich, einem Interview mit der Künstlerin von Hans Ulrich Obrist sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt Sebastian Baden, deutsch-englische Ausgabe, 160 Seiten, ca. 80 Abbildungen, 19 x 33,7 cm, Softcover, DISTANZ Verlag ­

ORT SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, 60311 Frankfurt am Main DAUER
20. Juni – 15. September 2024 INFORMATION schirn.de E-MAIL welcome@schirn.de TELEFON +49.69.29 98 82-0 TICKETS im Onlineshop der Schirn und an der Schirn Kasse EINTRITT 8 €, ermäßigt 6 €, freier Eintritt für Kinder unter 8 Jahren ÖFFNUNGSZEITEN Di, Fr bis So 10-19 Uhr, Mi und Do 10-22 Uhr FÜHRUNGEN BUCHEN Individuelle Führungen für Gruppen sind ab sofort buchbar unter fuehrungen@schirn.de INFORMATIONEN ZUM BESUCH Alle Informationen zum Besuch unter schirn.de/besuch/faq KURATOR Matthias Ulrich KURATORISCHE ASSISTENZ Theresa Dettinger GEFÖRDERT DURCH Schirn Zeitgenossen MIT ZUSÄTZLICHER UNTERSTÜTZUNG DURCH Kummer-Vanotti-Stiftung, Königreich der Niederlande ­ ­ ­ ­ ­ HASHTAGS #SELMASELMAN #SCHIRN FACEBOOK, TWITTER, YOUTUBE, INSTAGRAM, PINTEREST, SCHIRN MAGAZIN schirn.de/magazin ­ ­ ­ ­ ­

Bildnachweis: Selma Selman, her0, Gropius Bau (2023), © Gropius Bau, Foto: Eike Walkenhorst


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